Mit der Kraft der Graswurzel
Change I. Graswurzelinitiativen entstehen aus der Mitte der Organisation, aus einem Missstand oder Problem heraus, ohne Auftrag und ohne Rückendeckung. Sind sie erfolgreich, absorbiert sie die Organisation. Scheitern sie, trocknen sie aus.
Eine Sommerwiese voller Sonnenanbeter. Plötzlich springt ein junger Mann auf und beginnt zur allgemeinen Überraschung zu tanzen, allein und mit sichtlichem Spaß. Erst schauen die anderen irritiert, dann gesellt sich ein zweiter zu ihm und tanzt mit, bald ein dritter. Jetzt gibt es kein Halten mehr: Von überall strömen Menschen dazu und schließen sich an.
Die Geschichte stammt aus einem Ted-Video (https://bit.ly/ 37EsatY) und ist eine hübsche Analogie, wie Graswurzelinitiativen auch in Unternehmen starten. Einer aus der Mitte hat eine Idee, andere schließen sich an. Dabei folgen sie einer festen Logik. Es braucht einen Initiator, hier den ersten Tänzer. Er ist von seiner Idee so überzeugt, dass er sie auch gegen herrschende Regeln und Konventionen umsetzen will.
In Unternehmen entspringen Graswurzelprojekte meist einem Missstand, einem singulären Problem, das der Initiator erkennt und lösen will. Er will nicht das System umkrempeln, nur dieses eine Problem aus der Welt schaffen.
Beispiele: Bei Daimler wollte ein Manager die steife Sie-Kultur ablösen. Bei Audi wollten zwei treue Techniker dem Shitstorm nach dem Dieselskandal entgegenwirken. Bei Siemens wollte eine Managerin Holokratie einführen.
Solche Initiatoren haben keinen Auftrag, keine Erlaubnis und kein Budget, aber viel Engagement, Loyalität und Überzeugung. Typischerweise sind sie keine jungen Mitarbeiter, sondern erfahrene, die das System in- und auswendig kennen. Ein untadeliger Ruf ist von Vorteil, denn unvermeidlich wird die Frage kommen, woher man Zeit und Budget nimmt, um sich einem nicht genehmigten Projekt zu widmen. Ist man denn nicht ausgelastet? Wer bisher nur durch gute Arbeit aufgefallen ist, reduziert sein Risiko. Das ist jedenfalls groß. Geht die Sache schief, droht die Kündigung.
Der zweite Tänzer legitimiert den ersten moralisch. Dank ihm ist dieser kein einsamer Spinner mehr. Der Zweite erkennt das Potenzial der Idee und vertraut dem Ersten trotz dessen Regelbruchs ausreichend, um mitzumachen. Noch tanzen die beiden unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, unter dem Radar der Organisation. Mit dem dritten Tänzer entsteht eine Gruppe. In Zeiten von Social Media finden Graswurzler, die Probleme adressieren, die viele betreffen, vergleichsweise leicht Mittänzer. Mehrere Studien ergaben unisono, dass die kritische Masse bei 3,5 Prozent der Grundgesamtheit liegt: So viele Mittänzer müssen sich anschließen, damit das Thema von oben anerkannt und auf die Agenda gesetzt wird.
In der Anfangsphase kommt es jedoch noch nicht auf Quantität an, sondern auf Qualität. Die ersten Mittänzer müssen gut vernetzte, strategisch perfekt positionierte Multiplikatoren sein. Auch potente Sponsoren und Mentoren sind von Nutzen. Erstere verfügen über Budgets und Ressourcen, können die Initiative also finanzieren und Zeitreserven schaffen. Letztere gewähren Schutz.
Den wird man auch brauchen. Je größer die Bewegung wird, desto eher wird sie gesehen. Mit dem Verlust der Deckung kommt Gegenwind auf. Spätestens jetzt muss die strategische Planung stehen, einschließlich Stakeholder-Management und einem Auftritt, der des Vorstands würdig ist.
Kennzahlen-Dilemma
Genau hier stoßen Graswurzler regelmäßig auf ein schier unüberwindliches Problem. Wer auch immer ganz oben über Gedeih oder Verderb der Initiative entscheidet, urteilt nach herkömmlichen Maßstäben: KPIs, Kennzahlen, Geldeinheiten. Genau die können Graswurzler nicht liefern (sonst wären sie Intrapreneure, siehe unten). Ihre Motive sind idealistisch und nicht gewinnorientiert.
Vergleichsweise gut kamen hier die Graswurzler von Daimler weg. Sie hängten ihren E-Mail-Signaturen einfach den Hashtag
gerneperDu an. Wer wollte, machte mit, den anderen tat das nicht weh. Die treuen Audi-Ingenieure, die unter dem Shitstorm nach dem Dieselskandal litten, mussten in die Privatsphäre abtauchen. Nur in ihrer Freizeit, ohne Budget und Rückendeckung, durften sie einen Blog gegen den Shitstorm betreiben. Die HolokratieInitiative bei Siemens scheiterte. Ohne zwingende Zahlen ändern sich Konzerne nicht.
Es gibt noch einen Unterschied zu Intrapreneuren: Graswurzelinitiativen enden per Definition. Bei Erfolg absorbiert sie die Organisation. Bei Misserfolg versanden sie.