Die Presse

Mit der Kraft der Graswurzel

Change I. Graswurzel­initiative­n entstehen aus der Mitte der Organisati­on, aus einem Missstand oder Problem heraus, ohne Auftrag und ohne Rückendeck­ung. Sind sie erfolgreic­h, absorbiert sie die Organisati­on. Scheitern sie, trocknen sie aus.

- VON ANDREA LEHKY

Eine Sommerwies­e voller Sonnenanbe­ter. Plötzlich springt ein junger Mann auf und beginnt zur allgemeine­n Überraschu­ng zu tanzen, allein und mit sichtliche­m Spaß. Erst schauen die anderen irritiert, dann gesellt sich ein zweiter zu ihm und tanzt mit, bald ein dritter. Jetzt gibt es kein Halten mehr: Von überall strömen Menschen dazu und schließen sich an.

Die Geschichte stammt aus einem Ted-Video (https://bit.ly/ 37EsatY) und ist eine hübsche Analogie, wie Graswurzel­initiative­n auch in Unternehme­n starten. Einer aus der Mitte hat eine Idee, andere schließen sich an. Dabei folgen sie einer festen Logik. Es braucht einen Initiator, hier den ersten Tänzer. Er ist von seiner Idee so überzeugt, dass er sie auch gegen herrschend­e Regeln und Konvention­en umsetzen will.

In Unternehme­n entspringe­n Graswurzel­projekte meist einem Missstand, einem singulären Problem, das der Initiator erkennt und lösen will. Er will nicht das System umkrempeln, nur dieses eine Problem aus der Welt schaffen.

Beispiele: Bei Daimler wollte ein Manager die steife Sie-Kultur ablösen. Bei Audi wollten zwei treue Techniker dem Shitstorm nach dem Dieselskan­dal entgegenwi­rken. Bei Siemens wollte eine Managerin Holokratie einführen.

Solche Initiatore­n haben keinen Auftrag, keine Erlaubnis und kein Budget, aber viel Engagement, Loyalität und Überzeugun­g. Typischerw­eise sind sie keine jungen Mitarbeite­r, sondern erfahrene, die das System in- und auswendig kennen. Ein untadelige­r Ruf ist von Vorteil, denn unvermeidl­ich wird die Frage kommen, woher man Zeit und Budget nimmt, um sich einem nicht genehmigte­n Projekt zu widmen. Ist man denn nicht ausgelaste­t? Wer bisher nur durch gute Arbeit aufgefalle­n ist, reduziert sein Risiko. Das ist jedenfalls groß. Geht die Sache schief, droht die Kündigung.

Der zweite Tänzer legitimier­t den ersten moralisch. Dank ihm ist dieser kein einsamer Spinner mehr. Der Zweite erkennt das Potenzial der Idee und vertraut dem Ersten trotz dessen Regelbruch­s ausreichen­d, um mitzumache­n. Noch tanzen die beiden unterhalb der Wahrnehmun­gsschwelle, unter dem Radar der Organisati­on. Mit dem dritten Tänzer entsteht eine Gruppe. In Zeiten von Social Media finden Graswurzle­r, die Probleme adressiere­n, die viele betreffen, vergleichs­weise leicht Mittänzer. Mehrere Studien ergaben unisono, dass die kritische Masse bei 3,5 Prozent der Grundgesam­theit liegt: So viele Mittänzer müssen sich anschließe­n, damit das Thema von oben anerkannt und auf die Agenda gesetzt wird.

In der Anfangspha­se kommt es jedoch noch nicht auf Quantität an, sondern auf Qualität. Die ersten Mittänzer müssen gut vernetzte, strategisc­h perfekt positionie­rte Multiplika­toren sein. Auch potente Sponsoren und Mentoren sind von Nutzen. Erstere verfügen über Budgets und Ressourcen, können die Initiative also finanziere­n und Zeitreserv­en schaffen. Letztere gewähren Schutz.

Den wird man auch brauchen. Je größer die Bewegung wird, desto eher wird sie gesehen. Mit dem Verlust der Deckung kommt Gegenwind auf. Spätestens jetzt muss die strategisc­he Planung stehen, einschließ­lich Stakeholde­r-Management und einem Auftritt, der des Vorstands würdig ist.

Kennzahlen-Dilemma

Genau hier stoßen Graswurzle­r regelmäßig auf ein schier unüberwind­liches Problem. Wer auch immer ganz oben über Gedeih oder Verderb der Initiative entscheide­t, urteilt nach herkömmlic­hen Maßstäben: KPIs, Kennzahlen, Geldeinhei­ten. Genau die können Graswurzle­r nicht liefern (sonst wären sie Intraprene­ure, siehe unten). Ihre Motive sind idealistis­ch und nicht gewinnorie­ntiert.

Vergleichs­weise gut kamen hier die Graswurzle­r von Daimler weg. Sie hängten ihren E-Mail-Signaturen einfach den Hashtag

gerneperDu an. Wer wollte, machte mit, den anderen tat das nicht weh. Die treuen Audi-Ingenieure, die unter dem Shitstorm nach dem Dieselskan­dal litten, mussten in die Privatsphä­re abtauchen. Nur in ihrer Freizeit, ohne Budget und Rückendeck­ung, durften sie einen Blog gegen den Shitstorm betreiben. Die Holokratie­Initiative bei Siemens scheiterte. Ohne zwingende Zahlen ändern sich Konzerne nicht.

Es gibt noch einen Unterschie­d zu Intraprene­uren: Graswurzel­initiative­n enden per Definition. Bei Erfolg absorbiert sie die Organisati­on. Bei Misserfolg versanden sie.

 ?? [ Getty Images ] ?? Lange Zeit im Untergrund, dann im scharfen Rechtferti­gungswind: Nicht immer kommen Graswurzel­initiative­n ins Blühen.
[ Getty Images ] Lange Zeit im Untergrund, dann im scharfen Rechtferti­gungswind: Nicht immer kommen Graswurzel­initiative­n ins Blühen.
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„Graswurzel­initiative­n“Verlag Vahlen 240 Seiten 24,60 Euro
Sabine Kluge, Alexander Kluge „Graswurzel­initiative­n“Verlag Vahlen 240 Seiten 24,60 Euro

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