Tote haben weniger Privatsphäre
Erkennbarkeit. Während Lebende sich leicht bloßgestellt fühlen können, sei dies bei Mordopfern nicht mehr möglich, sagt der OGH. Die Klage einer Hinterbliebenen gegen eine Zeitung scheiterte.
Nach Berichten über einen Mordfall scheiterte die Klage der Angehörigen gegen eine
Zeitung.
Wien. Lebenslange Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher: So lautetet im Vorjahr das – nicht rechtskräftige – Urteil gegen einen Mann, der in Kottingbrunn seine Frau und zwei gemeinsame kleine Kinder getötet hatte. Der Fall hatte aber auch ein medienrechtliches Nachspiel. Und in diesem dreht nun der Oberste Gerichtshof (OGH) die Entscheidung der ersten beiden Instanzen um. Es war doch in Ordnung, dass die Leser eines Mediums viel über die Identität der Mordopfer erfahren konnten. Aber warum?
Die Tochter war zwei Jahre alt, der Sohn noch nicht einmal ein Jahr. Sie waren von dem Mann im Oktober 2019 ebenso umgebracht worden wie dessen 29-jährige Frau. Medienrechtlich ging die Mutter der getöteten Frau gegen eine Zeitung vor, die Details zu dem Fall veröffentlicht hatte. Dazu gehörte, dass ein Bild der Straße und des Wohnhauses der Familie gezeigt wurde. Auch wurden die Vornamen der Opfer genannt, der Täter wurde mit seinem Vornamen und zusätzlich der Initiale des Familiennamens erwähnt.
Der für die Artikel verantwortliche Journalist hatte die Namen der Opfer von der damaligen Rechtsvertreterin der Opfer erfahren. Über denselben Weg erfuhr der Journalist auch, dass die Frau früher einen westlichen Lebensstil gehabt habe. Unter Einschüchterung ihres Mannes – einem österreichischen Staatsbürger mit türkischen Wurzeln – habe die Frau aber begonnen, Kopftuch und lange Gewänder zu tragen. Grund für die Tat sei die rasende Eifersucht des Mannes gewesen.
Die Details wurden für Artikel verwendet. Informationen bekamen die Medien aber auch durch eine Pressekonferenz des Landeskriminalamts Niederösterreich. Dort wurde erklärt, dass es Hinweise auf Beziehungsstreitigkeiten vor der Tat gebe. Und es wurden Details zu den Todesarten der Opfer (Mutter und Tochter seien erstochen worden, der kleine Sohn nach einem Erstickungsversuch in Lebensgefahr) preisgegeben. Später verstarb auch der Sohn.
Die Hinterbliebene verlangte, dass es der Zeitung verboten wird, identifizierende Angaben über die Mordopfer zu veröffentlichen. Das Handelsgericht Wien erließ eine dementsprechende einstweilige Verfügung. Die (abgekürzten) Namen der Opfer hätten keinen wesentlichen Informationswert gehabt. Und wenn man ein Bild vom Wohnhaus der Familie zeige und ihre kleine Gemeinde nenne, komme dies einer Bekanntgabe der Adresse gleich. Das Oberlandesgericht Wien bestätigte die Entscheidung. Auch Tote hätten ein Recht auf Persönlichkeitsschutz. Wenn man dann den Fall so schildere, dass die Opfer identifiziert werden können, verletze man damit die Persönlichkeitsrechte.
OGH: Aufgabe von Medien
Der OGH betonte, dass dem Recht der Opfer die Aufgaben von Medien gegenüberstehen. Und diese Interessenabwägung „muss regelmäßig schon dann zugunsten der Berichterstattung ausfallen, wenn nicht überwiegende Gründe deutlich dagegen sprechen“. Blieb die Frage, ob man die Opfer besser hätte anonymisieren müssen.
„Die bloße Identifizierung als Mordopfer ist nicht mit einer Bloßstellung verbunden“, sagte der OGH aber (6 Ob 212/20z). „Zu Lebzeiten einer Person liegt ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bereits darin, dass der Einzelne gezwungen wird, sich mit öffentlicher Neugierde, unerwünschter Anteilnahme oder ungebetenem Mitleid in einer Angelegenheit seiner Privatsphäre auseinanderzusetzen“, sagten die Höchstrichter. „Diese Wirkung kann aber aufgrund des Ablebens der drei Mordopfer im vorliegenden Fall nicht mehr eintreten.“
Würde man der Vorinstanz folgen, wären Berichte über Mordfälle im familiären Umfeld nicht mehr möglich, sagte der OGH. Denn über den Täter seien immer auch die verwandten Opfer identifizierbar. Die Nennung der Vornamen der Opfer habe die Berichterstattung zudem anschaulicher gemacht. Und zur „aufrüttelnden und sensibilisierenden Wirkung“des Artikels beigetragen. Beim Haus sei nur die Vorderseite gezeigt worden. Alle wesentlichen Informationen zum Fall seien auch von den Behörden verbreitet worden. Die Artikel waren also zulässig.
„Rückschlag“aus Opfersicht
„Das Verfahren wurde ganz gezielt als Musterverfahren angelegt“, erklärt Anwältin Maria Windhager, die die Hinterbliebene vertreten hat. Bisher sei es bei der Geltendmachung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes stets um den Bildnisschutz gegangen, nun aber um die Identifizierung der Verstorbenen durch andere Angaben. Vor allem die Begründung, dass die Berichterstattung durch die Nennung der Vornamen der Mordopfer zusätzliche Anschaulichkeit erhalten habe, „ist aus opferschutzrechtlicher Sicht vollkommen verfehlt“, meint Windhager gegenüber der „Presse“. Sie ortet „einen schweren Rückschlag für den Opferschutz“, sollte der jetzige OGHBeschluss Judikaturlinie werden.