Gefangen im Teufelskreis der nuklearen Aufrüstung
Kernwaffen. Die Atommächte modernisieren ihre Arsenale, weitere Staaten greifen nach der Bombe: Schlechte Zeiten für Rüstungskontrolle.
Der Botschafter sprach Klartext: „Sie erhöhen die Anzahl der nuklearen Sprengköpfe um 40 Prozent. Das ist eine Verletzung des Atomwaffensperrvertrages und vieler, vieler weiterer Abkommen, die eine Verringerung der Atomwaffen zum Ziel haben“, rügte der russische Emissär in London, Andrej Kelin, die britische Regierung, die zuvor angekündigt hatte, die Obergrenze für ihr Atomarsenal von 180 auf 260 Sprengköpfe zu erhöhen.
Nun gibt es auch in Großbritannien ausreichend Kritiker der geplanten atomaren Aufrüstung. Die Regierung in London begründet ihr Vorhaben mit dem Ausbau, der Modernisierung und Diversifizierung der nuklearen Arsenale durch die anderen Atomwaffenstaaten: „Der verschärfte globale Wettbewerb, Herausforderungen für die internationale Ordnung, die Verbreitung von potenziell disruptiven Technologien stellen alle eine Bedrohung für die strategische Stabilität dar.“
Dass aber ausgerechnet Botschafter Kelin die britischen Pläne beanstandete, entbehrte nicht einer gewissen Impertinenz, zumal Moskau seit Jahren mit viel Geld seine Streitkräfte ausbaut und modernisiert, gerade auch die nukleare Komponente.
Vor allem in vielen Ländern Europas wurde nach dem Ende des Kalten Krieges das Kapitel
Atomwaffen regelrecht verdrängt, ja naiverweise als abgeschlossen betrachtet. Zwar haben die beiden großen Atommächte USA und Sowjetunion/Russland tatsächlich einen großen Teil ihres nuklearen Arsenals vertraglich abgebaut. Die Ukraine, Belarus und Kasachstan haben in den 1990er-Jahren sogar ihre eigenen Atomwaffen aufgegeben, was Kiew nach der russischen Besetzung der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine inzwischen bitter bereut.
Die USA und Russland besitzen immer noch 92 Prozent der vorhandenen 14.000 Kernwaffen. Mittlerweile gibt es weltweit neun Atommächte, und sie alle sind dabei, ihr Arsenal aufzustocken und ihre atomaren Waffen treffsicherer, weniger verwundbar und noch zerstörerischer zu machen.
Die im August geplante Konferenz zur Überprüfung des Atomsperrvertrages (NPT) wird an dieser rüstungstechnischen Dynamik ebenso wenig etwas ändern wie der im Jänner in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag, dem die Nuklearmächte genauso wenig beitraten wie die Nato-Staaten.
Das derzeitige weltpolitische Klima begünstigt die atomare Abrüstung ganz und gar nicht, die Signale stehen vielmehr auf Aufrüstung. Mit Iran, Saudiarabien und der Türkei begehren drei
weitere Staaten die Atombombe, und angesichts der nordkoreanischen Atom- und Raketentests wird auch in Südkorea und in Japan die Diskussion immer intensiver, ob man dem unberechenbaren Regime in Pjöngjang nicht am besten mit eigenen Atomwaffen begegnen könnte. Entscheiden sich diese beiden nukleartechnisch hochversierten Staaten für die Bombe, könnten sie diese wohl in kurzer Zeit zusammenbauen.
Moskaus Stolz auf neue Waffen
Russland präsentiert seit Jahren auch öffentlich stolz seine Anstrengungen auf dem Feld der Atomrüstung: die neue Interkontinentalrakete „Sarmat“, der Hyperschall-Gleitflugkörper „Awangard“(kann konventionelle und atomare Sprengköpfe tragen), der atomgetriebene Marschflugkörper „Burewestnik“, der atomgetriebene Langstreckentorpedo „Poseidon“oder die hyperschallschnelle LuftBoden-Rakete „Kinschal“.
In den USA wird derzeit über eine Modernisierung so gut wie aller Aspekte der „nuklearen Triade“(Kernwaffen zu Lande, zu Wasser und in der Luft) diskutiert. Es geht um einen Ersatz der 50 Jahre alten bodengestützten Interkontinentalrakete „Minuteman III“durch den neuen Flugkörper GBSD (Ground Based Strategic Deterrent); vorhandene Atomsprengköpfe sollen erneuert, zwei neue Kernsprengköpfe (W93 und der „Future Strategic Missile Warhead“) entwickelt werden; die gesamte nukleare Kommando- und Kontrollarchitektur soll überholt werden; luftgestützte Marschflugkörper sollen durch neue Langstreckengeschosse ersetzt werden. Bereits im vergangenen November demonstrierten die USA mit dem Abschuss einer Langstreckenrakete durch eine SM-3-Abfangrakete über dem Pazifik, wie weit sie in der Raketenabwehrtechnologie vorangekommen sind.
Nuklearer Wildwuchs
Zwar war es eine der ersten Amtshandlungen des neuen US-Präsidenten Joe Biden, das New-StartAbkommen über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen ohne Bedingungen um weitere fünf Jahre zu verlängern und damit das tragendes Element der nuklearen Rüstungskontrolle vorerst in
Kraft zu belassen, während auf Betreiben Donald Trumps der Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen (INF-Abkommen) entsorgt wurde. Eine Vielzahl von Kernwaffen und Trägersystemen, mit Ausnahme der interkontinentalen, ist vertraglich also nicht gedeckt, bildet sozusagen den nuklearen Wildwuchs.
Das derzeitige amerikanischrussische Verhältnis ist allein schon durch die konträren Bedrohungswahrnehmungen völlig vergiftet: Moskau sieht sich durch die weitverbreitete Russophobie in Washington, die an seine Grenzen herangerückte Nato und die militärischen Fähigkeiten der USStreitkräfte permanent herausgefordert. Washington wiederum erachtet die militärische Modernisierung der russischen Streitkräfte, die russischen Interventionen in der Ukraine, Syrien und Libyen sowie die russischen Cyberattacken gegen westliche Ziele und Einflussoperationen im Westen als ständige Gefahr. Zuletzt erklärte etwa Luftwaffengeneral Glen VanHerck vor einem Senatsausschuss, von Russland gehe die „akuteste Gefährdung“für die USA aus.
Misstrauen und Verachtung
Im nuklearen Wettstreit bedeutet dies, dass Russland aus Angst, die USA könnten durch Fortschritte bei der Raketenabwehr das strategische Gleichgewicht gefährden, eben solche Waffen entwickelt, die eine Raketenabwehr überwinden können: Hyperschallwaffen, Raketen, die im Flug ihre Richtung ändern können, Pseudosprengköpfe.
Die Amerikaner wiederum machen die russischen Waffenentwicklungen und -modernisierungen vor allem auch im Bereich der nuklearen Kurz- und Mittelstreckenwaffen nervös, und sie denken über Gegenmaßnahmen nach. So stecken beide Staaten mitten drin in einem Teufelskreis der nuklearen Aufrüstung.
Künftige Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle zwischen Moskau und Washington müssten also all die gegenseitigen Besorgnisse berücksichtigen – und genauso eine Vereinbarung treffen, nicht zu versuchen, mittels Cyberangriffen die nukleare Kommando- und Kontrollinfrastruktur der jeweils anderen Seite lahmzulegen. Angesichts des gewaltigen Misstrauens auf beiden Seiten und der gegenseitigen Verachtung scheint ein solches Jahrhundertprojekt für die Sicherung der strategischen Stabilität derzeit völlig unwahrscheinlich. Zumal ein dritter Player auf die Weltbühne drängt, der derzeit auch nuklear auf Teufel komm raus aufrüstet: Die Volksrepublik China.