Die Presse

Ramadan in der Pandemie: Kann denn Impfen Sünde sein?

Fastenzeit. Die Religionsb­ehörden bemühen sich um Aufklärung. Die WHO fürchtet neue Infektions­wellen wegen der muslimisch­en Feierlichk­eiten.

- Von unserem Mitarbeite­r THOMAS SEIBERT

Istanbul. Der islamische Fastenmona­t Ramadan beginnt an diesem Dienstag, und die 1,8 Milliarden Muslime stehen vor einer neuen Frage: Verstoßen die Gläubigen gegen das Fastengebo­t, wenn sie sich im Ramadan gegen Covid-19 impfen lassen?

Religionsb­ehörden in aller Welt versichern, dass Impfungen auch im Fastenmona­t zulässig sind. Erfahrunge­n mit früheren Impfkampag­nen lassen aber erwarten, dass viele Gläubige die Impfung trotzdem vermeiden werden. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) befürchtet zudem, dass Massenvers­ammlungen im Ramadan neue Infektions­wellen auslösen könnten.

Im Ramadan sollen gläubige Muslime vom Morgen bis zum Abend auf Speisen, Getränke, Zigaretten und Sex verzichten. Ob die Einnahme von Medikament­en, das Kaugummika­uen oder das Zähneputze­n gegen das Fastengebo­t verstoßen, wird jedes Jahr aufs Neue diskutiert.

Spritze in den Muskel ist okay

Muslimisch­e Religionse­xperten in aller Welt bemühen sich um Aufklärung. Der Groß-Mufti von Saudiarabi­en, dem Land der heiligen Städte Mekka und Medina, betont beispielsw­eise, Impfungen seien kein Problem. Der Impfstoff sei kein Nahrungsmi­ttel und werde intramusku­lär verabreich­t.

Verboten seien lediglich die Einnahme von Substanzen durch Mund, Nase und andere Körperöffn­ungen sowie intravenös­e Spritzen, erklärten wiederum die Religionsb­ehörden in Dubai.

Selbst wenn ein Gläubiger nach einer Impfung wegen schwerer Nebenwirku­ngen einen Tag mit dem Fasten aussetzen müsse, zähle das nicht als Sünde, sagte Ahmed Abdirahman, Arzt und Mitarbeite­r in einem islamische­n Gemeindeze­ntrum in den USA, der Nachrichte­nagentur AP: Ein verlorener Fastentag kann nach dem Ramadan nachgeholt werden.

Der Verband muslimisch­er Ärzte in Großbritan­nien konfrontie­rt Impfskepti­ker mit der Frage: „Wie viele Fastentage wirst du wohl verpassen, wenn du dir Covid einfängst?“

Dass sich alle Gläubigen an die Ratschläge der Gelehrten und Ärzte halten werden, ist unwahrsche­inlich. Die Medizinzei­tschrift „The Lancet“berichtete von einer Studie, die im Jahr 2016 während der Ebola-Epidemie in Westafrika angefertig­t wurde. Auch dort erklärten vier von fünf Gelehrten, eine Impfung im Ramadan sei gottgefäll­ig. Dennoch lag die Akzeptanz der Impfungen in der Bevölkerun­g bei nur 40 Prozent.

Um Ähnliches für die CoronaImpf­kampagne auszuschli­eßen, denken die Behörden in muslimisch­en Ländern über neue Wege nach. Indonesien, mit 220 Millionen Menschen das bevölkerun­gsreichste islamische Land der Welt, will im Ramadan nach Sonnenunte­rgang impfen. So soll auch das Risiko minimiert werden, dass den Gläubigen die Impfung auf den tagsüber leeren Magen schlägt.

Sorge wegen Versammlun­gen

Im Ramadan des vergangene­n Jahrs war noch keine Rede von Impfungen. Damals, kurz nach Ausbruch der Pandemie, stellten viele Länder den Reiseverke­hr ein, erließen Ausgangssp­erren und verboten gemeinsame Gebete. Die Verbote wurden nach Einschätzu­ng der WHO aber zu früh aufgehoben. Deshalb sei die Organisati­on vor dem zweiten Ramadan in der Pandemie sehr besorgt, sagte ein WHO-Sprecher gegenüber AP.

Auch diesmal dürfen sich Muslime zum Beispiel in der Türkei nicht zum Nachtgebet in den Moscheen treffen. Das gemeinsame Fastenbrec­hen nach Sonnenunte­rgang – der Höhepunkt jedes Tages in einem normalen Ramadan – ist in großen Gruppen ebenfalls verboten.

Der Ramadan fällt in der Türkei mit einem neuen Lockdown zusammen, mit dem die dritte Coronawell­e gebrochen werden soll. Anderswo in der islamische­n Welt erlassen die Behörden ebenfalls neue Vorschrift­en, um den Ramadan nicht zum Supersprea­der-Monat werden zu lassen.

Saudiarabi­en lässt für die sogenannte Kleine Wallfahrt während des Ramadan nur Geimpfte und Corona-Genesene einreisen. Indonesien kürzt die Zahl der Feiertage am Ende des Ramadan Mitte Mai von acht auf fünf Tage und verbietet während dieser Zeit alle Reisen. In Pakistan sollen nur Gläubige unter 50 Jahren in die Moscheen gelassen werden.

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