Warum Draghi Erdo˘gan einen Diktator nannte
Die Eiszeit mit Ankara ist Teil einer neuen geopolitischen Strategie Roms.
Rom/Wien. Mario Draghi hat im türkisch-europäischen „Sofagate“viele verblüfft: Der sonst eher wortkarge italienische Premier bezeichnete den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan˘ als Diktator. Dieser hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei Gesprächen in Ankara nur ein zweitklassiges Sofa angeboten.
Kein anderer EU-Chef hatte sich so explizit geäußert. Die Reaktion des Ex-EZB-Direktors überraschte umso mehr, als sich Rom und Ankara eigentlich nahe stehen: Italien ist der zweitgrößte EU-Handelspartner der Türkei und ist stets für den türkischen EU-Beitritt eingetreten.
Machtspiele in Libyen
Umso irritierter war man in Ankara. Außenminister Mevlüt C¸avus¸og˘lu warf Draghi „Populismus“vor und erinnerte daran, dass Erdogan˘ im Gegensatz zum italienischen Premier gewählt und nicht nur „nominiert“sei. Der italienische Botschafter wurde ins Außenministerium zitiert. Man verlangte von Rom eine Entschuldigung.
Die blieb aus. Erdogan˘ sagte zwar nichts, dafür sendete er klare Signale nach Rom: Ein Millionenvertrag für den Kauf italienischer Militärhubschrauber wurde auf Eis gelegt. Und Ankara zeigt seine geopolitischen Muskeln: Am Montag lud Erdogan˘ überraschend den libyschen Premier Abdul Hamid Mohammed Dbeibah samt dreizehn Ministern nach Ankara ein. Man sprach über Investitionen und Migration.
Das dürfte Rom wirklich nervös machen. Denn die ExKolonie galt lange als Einflussgebiet Italiens und ist eine zentrale Quelle für Gas- und Ölförderung des Energiekonzerns ENI. Stark präsent ist Italien in der Bauwirtschaft. Wichtig ist Libyen zudem, weil dort ein Großteil der Schlepperschiffe startet. Dank nicht nur transparenter Kooperationen mit libyschen Behörden und Clans versucht Rom, die Migration zu bremsen. Die EU schloss ebenfalls Verträge mit Libyen ab.
So ist es kein Zufall, dass Draghis allererster Auslandsbesuch als Premier nach Tripolis führte. Rom will wieder Fuß fassen in Libyen: Auch wegen der Türkei (dank ihrer Militärhilfe wurde der abtrünnige General Khalifa Haftar zurückgedrängt) spielt Italien nur noch eine Nebenrolle. Die Angst wächst, dass Ankara seinen Einfluss auf Tripolis nützt, um Rom und die EU mit der Migrationskarte zu „erpressen“.
Ein Signal nach Washington
In diesem Kontext muss Draghis Attacke gelesen werden: Mehr als eine Empörung über türkisches Machogehabe war sie eine politische Positionierung, ein Signal in Richtung USA, von denen man auch Unterstützung in Libyen erhofft. Draghi ließ sich bei seinem „Diktatoren-Sager“von Joe Biden inspirieren. Der US-Präsident wünscht sich eine Front gegen Autokraten und hat Wladimir Putin einen „Killer“genannt. Darüber wurde wohl auch gestern geredet, als US-Außenminister Antony Blinken seinen italienischen Amtskollegen Luigi Di Maio empfing.