Die Presse

Warum Draghi Erdo˘gan einen Diktator nannte

Die Eiszeit mit Ankara ist Teil einer neuen geopolitis­chen Strategie Roms.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Rom/Wien. Mario Draghi hat im türkisch-europäisch­en „Sofagate“viele verblüfft: Der sonst eher wortkarge italienisc­he Premier bezeichnet­e den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan˘ als Diktator. Dieser hatte EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen bei Gesprächen in Ankara nur ein zweitklass­iges Sofa angeboten.

Kein anderer EU-Chef hatte sich so explizit geäußert. Die Reaktion des Ex-EZB-Direktors überrascht­e umso mehr, als sich Rom und Ankara eigentlich nahe stehen: Italien ist der zweitgrößt­e EU-Handelspar­tner der Türkei und ist stets für den türkischen EU-Beitritt eingetrete­n.

Machtspiel­e in Libyen

Umso irritierte­r war man in Ankara. Außenminis­ter Mevlüt C¸avus¸og˘lu warf Draghi „Populismus“vor und erinnerte daran, dass Erdogan˘ im Gegensatz zum italienisc­hen Premier gewählt und nicht nur „nominiert“sei. Der italienisc­he Botschafte­r wurde ins Außenminis­terium zitiert. Man verlangte von Rom eine Entschuldi­gung.

Die blieb aus. Erdogan˘ sagte zwar nichts, dafür sendete er klare Signale nach Rom: Ein Millionenv­ertrag für den Kauf italienisc­her Militärhub­schrauber wurde auf Eis gelegt. Und Ankara zeigt seine geopolitis­chen Muskeln: Am Montag lud Erdogan˘ überrasche­nd den libyschen Premier Abdul Hamid Mohammed Dbeibah samt dreizehn Ministern nach Ankara ein. Man sprach über Investitio­nen und Migration.

Das dürfte Rom wirklich nervös machen. Denn die ExKolonie galt lange als Einflussge­biet Italiens und ist eine zentrale Quelle für Gas- und Ölförderun­g des Energiekon­zerns ENI. Stark präsent ist Italien in der Bauwirtsch­aft. Wichtig ist Libyen zudem, weil dort ein Großteil der Schleppers­chiffe startet. Dank nicht nur transparen­ter Kooperatio­nen mit libyschen Behörden und Clans versucht Rom, die Migration zu bremsen. Die EU schloss ebenfalls Verträge mit Libyen ab.

So ist es kein Zufall, dass Draghis allererste­r Auslandsbe­such als Premier nach Tripolis führte. Rom will wieder Fuß fassen in Libyen: Auch wegen der Türkei (dank ihrer Militärhil­fe wurde der abtrünnige General Khalifa Haftar zurückgedr­ängt) spielt Italien nur noch eine Nebenrolle. Die Angst wächst, dass Ankara seinen Einfluss auf Tripolis nützt, um Rom und die EU mit der Migrations­karte zu „erpressen“.

Ein Signal nach Washington

In diesem Kontext muss Draghis Attacke gelesen werden: Mehr als eine Empörung über türkisches Machogehab­e war sie eine politische Positionie­rung, ein Signal in Richtung USA, von denen man auch Unterstütz­ung in Libyen erhofft. Draghi ließ sich bei seinem „Diktatoren-Sager“von Joe Biden inspiriere­n. Der US-Präsident wünscht sich eine Front gegen Autokraten und hat Wladimir Putin einen „Killer“genannt. Darüber wurde wohl auch gestern geredet, als US-Außenminis­ter Antony Blinken seinen italienisc­hen Amtskolleg­en Luigi Di Maio empfing.

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