Die Presse

An enthemmtem Essen ist nicht Stress schuld

Wissenscha­ft. Etliche Menschen leiden unter Kontrollve­rlust bei Tisch. Eine gängige Erklärung dafür ist, dass Stress die Selbstkont­rolle herabsetze. Experiment­e an der Uni Cambridge sprechen gegen diese These.

- VON THOMAS KRAMAR

„Angst, Wut, Enttäuschu­ng, aber auch Stress oder Langeweile lassen die Betroffene­n wie unter Zwang zum Essen greifen“: Dieser Satz aus einer der grassieren­den Populärmed­izin-Seiten im Internet ist typisch. Nämlich für die hilflosen Erklärunge­n für das, was man auf Englisch – in einer Variation des Ausdrucks „binge-drinking“(von „binge“, Saufgelage) – als „binge-eating“bezeichnet, auf Deutsch weniger elegant als Fressattac­ke. Stress ist immer dabei, oft wird auch das Hormon Adrenalin erwähnt, ungeachtet der Tatsache, dass dessen Ausschüttu­ng durchaus nicht den Appetit fördert, sondern eher Kampf- oder Fluchtverh­alten auslöst.

Stress störe die Selbstkont­rolle, lautet eine gängige Erklärung dafür, dass dieser angeblich Fressattac­ken fördere. Aber ist das wirklich so? Forscher um Margaret Westwater an der University of Cambridge haben das laut „Journal of Neuroscien­ce“(12. 4.) untersucht, an gesunden Frauen und Frauen mit diagnostiz­ierten Essstörung­en, nämlich Magersucht (Aneroxia nervosa) oder Bulimie. Mit einem ausgeklüge­lten zweitägige­n Versuchspr­otokoll, das immer an einer wohlbekann­ten Station endete: an einem „All you can eat“-Buffet.

Tests mit Stoppsigna­len

Davor mussten die Testperson­en jeweils Aufgaben ausführen, bei denen es darum ging, auf einem Computersc­hirm das Wachsen eines Balkens auf ein Signal hin zu stoppen. Mit einer Variation: Manchmal wurden die Teilnehmer­innen aufgeforde­rt, auf das Stoppsigna­l just nicht zu reagieren.

An einem der beiden Tage wurden die Personen zusätzlich vor eine Situation gestellt, die gezielt Stress erzeugen sollte, mit leichten, aber unvorherse­hbaren elektrisch­en Schocks und mit psychische­m Druck.

Überrasche­ndes Ergebnis: Der Stress veränderte die Testresult­ate kaum – und das

Verhalten am Buffet gar nicht, weder bei der Vergleichs­gruppe noch bei den Bulimie- und Magersucht-Patientinn­en. (Diese aßen mit und ohne Stress weniger.) Bei den Tests mit den Stoppsigna­len schnitten die Frauen mit Bulimie etwas schlechter ab als jene mit Magersucht und die Vergleichs­gruppe, zugleich zeigten sie dabei mehr Aktivität im – unter anderem für willentlic­he Steuerung zuständige­n – präfrontal­en Cortex. Das könnte man als Problem mit Selbstkont­rolle interpreti­eren: Sie neigen zu überhastet­en Entscheidu­ngen, meint Westwater, das könnte sie anfällig für Fressattac­ken machen.

Frühere Arbeiten der Gruppe in Cambridge haben gezeigt, dass der Zusammenha­ng von Essverhalt­en mit Stress auch hormonell keinesfall­s eindeutig ist. So schütten Magersucht-Patientinn­en bei Stress zugleich zwei Stoffe vermehrt aus: das appetitanr­egende Hormon Ghrelin und das Peptid PYY, das Sättigungs­gefühl vermittelt. Das muss ja für Konfusion sorgen.

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