An enthemmtem Essen ist nicht Stress schuld
Wissenschaft. Etliche Menschen leiden unter Kontrollverlust bei Tisch. Eine gängige Erklärung dafür ist, dass Stress die Selbstkontrolle herabsetze. Experimente an der Uni Cambridge sprechen gegen diese These.
„Angst, Wut, Enttäuschung, aber auch Stress oder Langeweile lassen die Betroffenen wie unter Zwang zum Essen greifen“: Dieser Satz aus einer der grassierenden Populärmedizin-Seiten im Internet ist typisch. Nämlich für die hilflosen Erklärungen für das, was man auf Englisch – in einer Variation des Ausdrucks „binge-drinking“(von „binge“, Saufgelage) – als „binge-eating“bezeichnet, auf Deutsch weniger elegant als Fressattacke. Stress ist immer dabei, oft wird auch das Hormon Adrenalin erwähnt, ungeachtet der Tatsache, dass dessen Ausschüttung durchaus nicht den Appetit fördert, sondern eher Kampf- oder Fluchtverhalten auslöst.
Stress störe die Selbstkontrolle, lautet eine gängige Erklärung dafür, dass dieser angeblich Fressattacken fördere. Aber ist das wirklich so? Forscher um Margaret Westwater an der University of Cambridge haben das laut „Journal of Neuroscience“(12. 4.) untersucht, an gesunden Frauen und Frauen mit diagnostizierten Essstörungen, nämlich Magersucht (Aneroxia nervosa) oder Bulimie. Mit einem ausgeklügelten zweitägigen Versuchsprotokoll, das immer an einer wohlbekannten Station endete: an einem „All you can eat“-Buffet.
Tests mit Stoppsignalen
Davor mussten die Testpersonen jeweils Aufgaben ausführen, bei denen es darum ging, auf einem Computerschirm das Wachsen eines Balkens auf ein Signal hin zu stoppen. Mit einer Variation: Manchmal wurden die Teilnehmerinnen aufgefordert, auf das Stoppsignal just nicht zu reagieren.
An einem der beiden Tage wurden die Personen zusätzlich vor eine Situation gestellt, die gezielt Stress erzeugen sollte, mit leichten, aber unvorhersehbaren elektrischen Schocks und mit psychischem Druck.
Überraschendes Ergebnis: Der Stress veränderte die Testresultate kaum – und das
Verhalten am Buffet gar nicht, weder bei der Vergleichsgruppe noch bei den Bulimie- und Magersucht-Patientinnen. (Diese aßen mit und ohne Stress weniger.) Bei den Tests mit den Stoppsignalen schnitten die Frauen mit Bulimie etwas schlechter ab als jene mit Magersucht und die Vergleichsgruppe, zugleich zeigten sie dabei mehr Aktivität im – unter anderem für willentliche Steuerung zuständigen – präfrontalen Cortex. Das könnte man als Problem mit Selbstkontrolle interpretieren: Sie neigen zu überhasteten Entscheidungen, meint Westwater, das könnte sie anfällig für Fressattacken machen.
Frühere Arbeiten der Gruppe in Cambridge haben gezeigt, dass der Zusammenhang von Essverhalten mit Stress auch hormonell keinesfalls eindeutig ist. So schütten Magersucht-Patientinnen bei Stress zugleich zwei Stoffe vermehrt aus: das appetitanregende Hormon Ghrelin und das Peptid PYY, das Sättigungsgefühl vermittelt. Das muss ja für Konfusion sorgen.