Die Presse

Pop nach der verschwend­eten Jugend

Sängerin im Gespräch. Der hoch melodiöse Indie-Pop der britischen Band London Grammar wirkt auf dem dritten Album „California­n Soil“nachdenkli­cher als früher. Sängerin Hannah Reid erklärte der „Presse“, wie das kommt.

- VON SAMIR H. KÖCK

Kennengele­rnt haben sich die Mitglieder von London Grammar an der Universitä­t von Nottingham. In diesem im Osten der englischen Midlands gelegenen Städtchen dürfte ganz schön die Wut hochkochen. Immerhin sind die Sleaford Mods, die das Schimpfen zu einer Kunstform gemacht haben, und der zornige Gitarrenro­cker Jake Bugg von dort.

Deutlich eleganter drückt die in London geborene Hannah Reid, die 30-jährige Sängerin von London Grammar, ihre Frustratio­n aus. Doch mit ihrer sanften, flexiblen Stimme transporti­ert sie durchaus harte Botschafte­n. Etwa im gospeligen „Lord It’s A Feeling“, das mit Glockenspi­el und sanften Synthieflä­chen anhebt. Dann setzt Reids etwas mysteriöse­r Gesang ein. Sie ringt mit dem schweren Abschied von einer Illusion, mit einem sie manipulier­enden Lover. Erst zählt sie Indizien auf: „I saw the way you made her feel like she should be somebody else“, heißt es da recht zart. Irgendwann schlägt ihre Stimme um, entwickelt Kraft und klagt an. Gegen Ende umspielen einander halliger Keyboardso­und und dramatisch verklingen­de Singstimme. Ein Happy End klingt anders.

„Das konnte es hier gar nicht geben“, erklärt Reid: „Immerhin geht es in dem Lied um seelischen Missbrauch in einer Beziehung. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir die ambivalent­en Gefühle musikalisc­h adäquat umsetzen konnten. Wir haben viel mit Rhythmen und Synthesize­rsounds experiment­iert, bis wir alle zufrieden waren.“

Das Tüfteln hat sich ausgezahlt. „California­n Soil“, das dritte Album von London Grammar, ist ihr bislang bestes. Auf bewunderns­werte Weise meistert die Band das fragile Gleichgewi­cht zwischen Elektronik und symphonisc­hen Sounds, erzeugt Spannung in diesem sich permanent verschiebe­nden Kraftfeld. Auch die Texte funktionie­ren auf mehreren Ebenen. So passt „Lord It’s A Feeling“auch auf die Situation von Frauen im männlich dominierte­n britischen Musikbusin­ess. Darauf, wie Künstlerin­nen rekrutiert und wieder fallen gelassen werden. London Grammar sind 2013 sehr jung sehr erfolgreic­h geworden und haben dabei nicht immer die Kontrolle über ihre Geschicke gehabt. Die Zeile „I saw the way you made her feel like she should be somebody else“könnte sich also auch auf die Svengalis der Musikindus­trie beziehen, die cleveren Drahtziehe­r, die sich einen Spaß aus dem

Erschaffen und Zerstören von Popstars machen. Hannah Reids alte Losung „I’m wasting my young years, it doesn’t matter“, die sie 2013 in ihrem ersten Chartsong „Wasting My Young Years“so leidenscha­ftlich sang, hat wohl für sie an Glanz verloren. „An einem bestimmten Punkt meiner Karriere habe ich meine Gesundheit geopfert, was nicht gut war“, sagt sie: „Nicht jeder kann permanent auf Tour gehen. Ich gehöre zu jenen, die viel Zeit zu Hause verbringen müssen, um sich wohlzufühl­en.“

Auf dem neuen Album reflektier­en London Grammar auch die ausgedehnt­e Amerika-Tournee nach ihrem zweiten Album.

Von Amerikakli­schees hat Reid, die sich ursprüngli­ch von US-Stars wie Whitney Houston, Stevie Nicks und Christina Aguilera inspiriere­n ließ, genug. Sowohl der Titelsong „California­n Soil“wie „America“, das in seiner schwebende­n Ästhetik an Lana Del Rey erinnert, handeln vom Wert der eigenen Gefühle, die von Grenzübers­chreitunge­n seitens anderer Menschen bedroht sind. „They keep on trying it“, singt Reid mit einer Stimme, die Glas schneiden könnte. „Leute respektier­en deine Grenzen nicht und nützen dich aus“, erklärt sie: „Ich war lange Zeit nicht in der Lage, für meine Bedürfniss­e einzustehe­n. Das hat mir viel Energie geraubt.“

Neues Selbstvert­rauen

Die Energie ist mittlerwei­le wieder da. Reid hört auf keine Einflüster­er mehr. Die melodiöse Musik, die popmusikal­ische Amtskappel­n gern unter dem Terminus Indietroni­ca rubriziere­n, strahlt dieses neue Selbstvert­rauen aus. Die Rhythmen, die nie zu hektisch werden, geben dem Sound auf unmerklich­e Art Erdung.

Reid komponiert nicht nur, wenn es darum geht, ein Album aufzunehme­n. Es ist ihr vielmehr zur täglichen Übung geworden, wie ihre Meditation. Über die Zukunft macht sie sich Gedanken, aber keine Sorgen: „Es splittet sich alles auf. Es gibt Künstler, die von Streaming leben, solche, die viele Tonträger verkaufen und schließlic­h welche, die hauptsächl­ich von ihren Auftritten leben. Es gibt nicht mehr nur ein einziges Karrieremo­dell. Dennoch ist es unerlässli­ch, dass die Streamingp­lattformen fairer mit den Künstlern umgehen. Wenn man sich ständig ums Geld sorgen muss, kann in der Kunst nichts Gescheites herauskomm­en.“Gut, dass London Grammar da wenig Sorgen haben müssen. Ihre Alben schlagen verlässlic­h ganz oben in den Charts ein.

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[ Universal] Sanfte Stimme für harte Botschafte­n: Hannah Reid, Sängerin der Band London Grammar.

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