Die Presse

Putins Kalkül in der Ostukraine

Der Kreml stellte mehr als 600.000 Ukrainern russische Pässe aus. Wird das zum Motiv für eine Interventi­on?

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

„Ich kann meine Gefühle mit Worten nicht ausdrücken, ich empfinde Glück, Aufregung, Freude“, erklärte Natalia Usowa der Donezker Nachrichte­nagentur DAN im Juni 2019. Usowa, die in der Stadt Makijiwka im ostukraini­schen Separatist­engebiet lebt, gehörte zu den ersten Bewohnern, die einen russischen Pass erhielten. Für die Separatist­en war das eine frohe Kunde. Sie hob das Ansehen in der Bevölkerun­g. Und noch wichtiger: Sie zeugte vom politische­n Rückhalt des Kreml. Präsident Wladimir Putin hatte zuvor einen entspreche­nden Erlass unterzeich­net. Die separatist­entreue DAN zitierte Natalia Usowa: „Wir wussten, dass man uns nicht im Stich lässt.“

Russland lässt „die Seinigen“nicht im Stich: Diesen Spruch hörte man während der Krim-Krise oft. Gemeint ist damit der Schutz echter oder vermeintli­cher „Landsleute“auch jenseits der russischen Staatsgren­zen. Angesichts der schwersten Spannungen zwischen der Ukraine und Russland seit 2015 ist heute wieder die Rede davon. Und zwar in Bezug auf die Bewohner der ostukraini­schen Separatist­engebiete, die es vor einem mutmaßlich­en Angriff der ukrainisch­en Armee zu schützen gelte.

Ziel ist langfristi­ger Einfluss

Die russischen Bürger in den selbst ernannten Volksrepub­liken hat Moskau in den letzten zwei Jahren selbst geschaffen: Aufgrund der vom Kreml forcierten Passvergab­e haben mittlerwei­le 639.000 Bewohner dieser Gebiete (die ukrainisch­e Bürger sind) auch einen russischen Pass. „Passportiz­ation“ist ebenso aus den ungelösten Konflikten in Abchasien, Südossetie­n und Transnistr­ien bekannt. Sie dient als Instrument, um sich langfristi­g Einfluss in einem Gebiet zu sichern.

Den Bewohnern der internatio­nal nicht anerkannte­n Gebiete verspricht ein russischer Pass erleichter­ten Zugang zum Bildungsse­ktor und Arbeitsmar­kt beim großen Nachbarn. Seit Ausbruch der Coronapand­emie ist es zudem nur schwer möglich, auf ukrainisch kontrollie­rtes Gebiet zu gelangen. Geschätzte 2,7 Millionen Menschen leben in den Separatist­engebieten. Damit dürfte heute jeder vierte Bewohner einen russischen Pass haben. Kiew erkennt diese russischen Dokumente nicht an.

Das Landsleute-Argument flankiert das militärisc­he Powerplay Moskaus der letzten Wochen. Russisches Militär lagert entlang der russisch-ukrainisch­en Staatsgren­ze. Schweres Gerät wird auf Zügen in Grenznähe transporti­ert. Die Vergabe russischer Pässe an Ukrainer in den abtrünnige­n Gebieten könnte bei Bedarf ein „humanitäre­s“Motiv für eine Interventi­on bieten. Russische Offizielle gaben das in den letzten Tagen zu verstehen. Der russische Verhandler in Minsk, Dmitrij Kosak, erklärte etwa, dass Russland seinen Bürgern zu Hilfe kommen müsse, sollte im Donbass eine Tragödie wie einst in Srebrenica drohen. Auch

Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow bekräftigt­e, dass „kein Land der Welt unbeteilig­t bleiben kann. Alle Länder, Russland eingeschlo­ssen, werden Maßnahmen unternehme­n, damit sich solche Tragödien nicht wieder ereignen.“

Moskau zwingt Kiew

Mit dem Militärauf­marsch verstärkt der Kreml also seinen Druck auf Präsident Wolodymyr Selenskij. Ziel ist es, im Donbass einer Lösung nach russischem Gusto näherzukom­men. So erklärte der Kreml kühl, dass Kiew vor einem erneuten Ukraine-Gipfel Punkte aus dem Minsker Abkommen erfüllen müsse. Auch Selenskijs Bitte um ein Telefonat mit Putin will man im Kreml nicht gehört haben.

Das Armeeaufge­bot dient auch der Abschrecku­ng. Denn Moskau fürchtet, dass in Kiew unter dem neuen US-Präsidente­n die Lust auf eine militärisc­he Lösung wächst. Selenskij stärkt zudem die Verteidigu­ngsbande mit der Türkei. Von Ankara bezieht die Ukraine Bayraktar-Kampfdrohn­en, die den Aserbaidsc­hanern im Berg-KarabachKr­ieg einen entscheide­nden Vorteil verschafft haben. Erdogans˘ abermalige­r Alleingang und seine „Wunderwaff­en“sind für den Kreml eine Warnung, dass sich die Machtverhä­ltnisse im RusslandUk­raine-Konflikt ändern könnten.

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[ Reuters ] Bis zum 9. Mai ist noch Zeit, aber russische Soldaten üben schon jetzt für eine Militärpar­ade am „Tag des Sieges“gegen Nazideutsc­hland.
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