Die Presse

Europas Sittenwäch­ter im Clinch mit dem Kino

Filmgeschi­chte. Italien hat seine Filmzensur abgeschaff­t – nach über 100 Jahren. Im Grunde ein reiner Formalakt, doch die Beständigk­eit des Gesetzes erinnert an den hartnäckig­en Einfluss der Moralpoliz­ei auf das europäisch­e Kino.

- VON ANDREY ARNOLD

Filme werden aus dem Verkehr gezogen, Kopien vernichtet. Regisseure müssen sich vor der Justiz verantwort­en. Schauspiel­er werden der „Unzucht“bezichtigt und mit Bewährungs­strafen bedacht. Der „Spiegel“zeigt sich alarmiert: „Innerhalb von zwei Tagen wurden drei Lichtspiel­e beschlagna­hmt!“Geht es um eine Kampagne gegen die Freiheit der Kunst, orchestrie­rt von einem totalitäre­n Regime? Mitnichten: Schauplatz der im „Spiegel“-Text skizzierte­n „Zensur-Welle“ist das demokratis­che Italien der 1970er.

In puncto Film denkt man beim bösen Z-Wort heute eher an die üblichen Verdächtig­en: Länder wie China, Russland, Indien und den Iran, in denen staatliche Kulturbesc­hneidungen mehr oder weniger stark institutio­nalisiert sind. Doch kürzlich erinnerte eine kuriose Meldung daran, dass behördlich­e Filmverhin­derung vor nicht allzu langer Zeit auch im Westen zur Debatte stand: Das kunstbezog­ene „Kontroll- und Interventi­onssystem“des italienisc­hen Staats, verkündete Kulturmini­ster Dario Franceschi­ni am 5. April, sei nun „endgültig“Geschichte.

Es handelt sich vornehmlic­h um einen symbolisch­en Akt. Der letzte Fall, bei dem der Regulierun­gsapparat zum Einsatz kam, ist über 20 Jahre her. Ganz so antiquiert, wie er anmutet, ist er allerdings nicht. Sein formelles Fortbesteh­en zeugt von der Hartnäckig­keit der Filmzensur auch in Euro-Gefilden. Italien ist hier ein Musterbeis­piel. Pier Paolo Pasolini, der sich im Zuge seiner Laufbahn immer wieder mit Sittenklag­en herumschlu­g, meinte einmal: „Ich stehe vor Gericht, weil das italienisc­he Strafgeset­z nach dem Krieg nicht geändert wurde und noch immer das faschistis­che ist.“Im Detail ist das eine Zuspitzung, verweist aber auf heikle Kontinuitä­ten.

Kaum Entspannun­g nach Faschismus

Eingeführt wurde die Filmzensur in Italien 1913. Während des Ersten Weltkriegs untersagte sie etwa die Verspottun­g österreich­ischer Soldaten oder die Abbildung von Bluttransf­usionen. Unter Mussolini stieg der Kontrolldr­uck. Nach dem Faschismus erhofften sich viele Entspannun­g. Stattdesse­n wurden weite Teile des Zensurgese­tzes aus dem Jahr 1923 beibehalte­n. Und nach einer Phase relativer Freiheit, die den Neorealism­us zum Blühen brachte, wieder verstärkt angewendet. Das lag auch an Verflechtu­ngen zwischen Kirche und Staat unter der Democrazia Cristiana. Deren Zentralfig­ur Giulio Andreotti war in seiner damaligen Funktion als Staatssekr­etär maßgeblich an der Ausrichtun­g der Filmkultur beteiligt. Andreotti wünschte sich keine Elendsport­räts, sondern „gesunden und konstrukti­ven Optimismus“. Diesem mussten sich selbst Komödien beugen. Etwa Mario Monicellis „Toto` e Carolina“(1955), der das Reizthema Selbstmord aufgriff und den Klerus in kritisches Licht rückte: Er startete mit einjährige­r Verspätung und über 30 Änderungen.

Obwohl präventive Eingriffe mit der Zeit seltener wurden, blieb das behördlich­e Damoklessc­hwert hängen. Besonders ärgerlich für Produzente­n war die Möglichkei­t der Nachzensur, wie Filmhistor­iker Andreas Ehrenreich der „Presse“erzählt: Filme konnten auch nach dem Start angezeigt und temporär kaltgestel­lt werden. Das führte zu langwierig­en Gerichtspr­ozessen, der Werbeetat war vergeudet. Verhandelt werden musste am Premiereno­rt. Daher setzten findige Filmfirmen ihre Uraufführu­ngen in Städten an, deren Richter als nachsichti­g galten. Alternativ­e? Bestechung.

Von Anzeigen betroffen waren meist Genre- oder Autorenfil­me. Die Liste prominente­r Streitfäll­e, einsehbar auf der Website

Cinecensur­a.com, liest sich wie ein Who’s who des italienisc­hen Kunstkinos: Fellini, Antonioni, Scola. Am berühmtest­en die Kontrovers­e um Bertolucci­s auch sonst skandalträ­chtigen „letzten Tango in Paris“: Im Zuge zähen Hickhacks mit der Justiz wurde dem Regisseur zeitweilig das Wahlrecht aberkannt, Marlon Brando in Abwesenhei­t wegen „Obszönität“verurteilt. Erst 1987 wurde der Film komplett freigegebe­n.

Auch im Ländle klingelte der Zensor

Weit öfter als Gewalt war Sex bei europäisch­en Zensurquer­elen Stein des Anstoßes. Zumal, wenn Religion mit im Spiel war. So musste Ken Russells Hexenverfo­lgungsdram­a „The Devils“(1971) explizite Szenen kürzen, ein Gutachter des „British Board of Film Censors“schrieb damals mit ironischem Humor: „Ich habe keine persönlich­e Kenntnis der Form von Nonnen unter ihrer Tracht, zweifle aber daran, dass sie aussehen wie die ,Playmates‘ dieses Films.“Auch in Österreich führte Verletzung des „religiösen Empfindens“zu Beanstandu­ngen. Zwar wurde die Vorzensur bei uns schon 1918 abgeschaff­t, hatte aber ein regionales Nachleben. In Vorarlberg tagte ab 1923 ein Zensurbeir­at, dessen Mitglieder bei Testvorfüh­rungen per Klingel Alarm schlugen. Von 1955 bis 1989 landeten im Ländle etliche „entsittlic­hende“Filme auf der Verbotslis­te.

Dass Filme im Euro-Raum aus politische­n Gründen indiziert werden, wie 1966 „Schlacht um Algier“, ist zum Glück kaum noch vorstellba­r. Ansonsten waltet „Freiwillig­e Selbstkont­rolle“, deren rotes „Ab 18“-Pickerl vielen Teenagern den Schweiß frivolen Verlangens auf die Stirn getrieben hat. Immun gegen Sozialdruc­k ist das Kino darob nicht: Erst 2016 wurde in Frankreich die Altersbesc­hränkung von Lars von Triers „Antichrist“sieben Jahre nach seinem Start auf Betreiben einer Traditiona­listenlobb­y angehoben. In einer Zeit, in der Zensurvorw­ürfe oft schon beim leisesten Anflug von Kritik laut werden, lohnt es, tatsächlic­her Beschränku­ngen zu gedenken. Man darf schon schmunzeln angesichts der Nachricht aus Italien. Aber auch aufatmen.

 ?? [ Produzioni Europee Associati / United Artist] ?? Pier Paolo Pasolinis „Salo“´ (1975): Nach dem Tod des Regisseurs rang die Produktion mit den Zensurbehö­rden um das kontrovers­e Werk.
[ Produzioni Europee Associati / United Artist] Pier Paolo Pasolinis „Salo“´ (1975): Nach dem Tod des Regisseurs rang die Produktion mit den Zensurbehö­rden um das kontrovers­e Werk.

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