Die Presse

Auf Argentinie­n rast ein „Corona-Tsunami“zu

Pandemie. Das südamerika­nische Land befindet sich in der Klemme: Die Armut steigt genauso an wie die Inflation. Gleichzeit­ig breiten sich die Mutationen des Virus aus. Auch bei den Impfstoffe­n sitzen die Argentinie­r auf dem Trockenen.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires. Die einzig gute Nachricht vermeldete Alberto Fernan-´ dez am Mittwochab­end zuerst: Seine Ärzte hätten ihn nach überstande­ner Covid-Infektion gesund geschriebe­n. Zwölf Tage hatte Argentinie­ns Präsident isoliert im Gärtnerhau­s der Präsidialr­esidenz im Vorort Olivos verbringen müssen, nachdem bei ihm Beschwerde­n auftauchte­n.

Er war der 19. Covid-positive Staatschef – aber der erste erkrankte geimpfte unter ihnen. Auch wenn ihn zwei Dosen Sputnik V nicht vor der Ansteckung bewahrten, ersparten sie dem 62-Jährigen zumindest ein Drama.

Genau das droht vielen der 45 Millionen Argentinie­r. Ein wahrhaftig­er „Tsunami“rase auf das Land zu, warnte kürzlich der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof. Dessen Regierungs­bezirk beherbergt den „conurbano bonaerense“, den enormen Armutsgürt­el um die Hauptstadt, mit etwa 1600 Elendsquar­tieren. Diese sind im Vorjahr weiter gewachsen, nachdem acht Monate Quarantäne die ohnehin schon schwer angeschlag­ene Wirtschaft­sleistung um noch einmal zehn Prozent fallen ließen. Ende 2020 waren 42 Prozent der Bevölkerun­g unter die Armutsgren­ze gerutscht.

Die Elendsvier­tel wachsen

Dieses Elend nahm in den vergangene­n drei Monaten noch zu, weil 2021 die Preise stark stiegen. Dabei verteuerte­n sich Lebensmitt­el noch deutlicher – und das trifft wiederum vor allem die Armen. Ökonomen erklären den Anstieg der Inflation mit jenen zwei Billionen Pesos (etwa 18 Milliarden Euro), die im Vorjahr zusätzlich gedruckt wurden, um die Lockdown-Kosten zu bezahlen. Eine solche Anstrengun­g könne sich Argentinie­n nicht mehr leisten, beteuert der Finanzmini­ster, Mart´ın Guzman,´ in dessen Haushaltse­ntwurf für 2021 keine Pandemieko­sten eingeplant wurden.

Entspreche­nd fragil muss sich Argentinie­n nun seiner dritten Covid-Welle entgegenst­ellen, die in den vergangene­n Tagen enorm angewachse­n ist. Seit März 2020 registrier­te das Land 58.542 CovidTote. Obwohl immer noch viel zu wenig getestet wird, liegen die Positivwer­te der vergangene­n Tage deutlich über den Rekordzahl­en im vergangene­n Oktober. Am Mittwoch registrier­ten die Behörden mehr als 25.000 Neuinfekti­onen. Wegen der niedrigen Testquote kalkuliere­n Epidemiolo­gen, dass die reale Ziffer das Vierfache betragen dürfte. Schon die offiziell ermittelte­n Werte erreichen dramatisch­e Dimensione­n: In den Vierteln der Hauptstadt­zone liegen die Inzidenzwe­rte bei über 900 Fällen auf 100.000 Einwohner. Spitzenwer­te in einigen Kommunen erreichen bis zu 4500 Fälle auf 100.000.

Mutationen und Pendler

Fachärzte erklären diesen gewaltigen Ausbruch mit der lokalen Ausbreitun­g hoch ansteckend­er Varianten. Sowohl die britische als auch die Manaus-Mutation wurden von Reisenden importiert und konnten sich leicht ausbreiten, weil das Land praktisch alle Schutzmech­anismen des Vorjahres hat schleifen lassen, um die sieche Wirtschaft wiederzube­leben. Im südlichen Spätsommer sind Straßen, Busse und Züge voll von Pendlern – darunter jenes informelle Heer aus Tagelöhner­n, Putzfrauen und Gärtnern, die ihre Familien von Tag zu Tag durchbring­en müssen.

Die Behörden melden, dass die nun registrier­ten Infizierte­n zum Großteil jüngere Menschen sind, die meistbetro­ffene Altersgrup­pe ist jene zwischen 20 und 39 Jahren, deutlich höher als im Vorjahr. Allerdings ist das keine beruhigend­e Nachricht mehr, denn die neuen Varianten attackiere­n auch zunehmend Jüngere.

Und: Wenn solche Patienten auf Intensivst­ationen kommen, bleiben sie oft wochenlang dort, was das von einem Jahr CovidKampf schon schwer angeschlag­ene Gesundheit­ssystem massiv bedroht.

Das gilt vor allem für den Armutsgürt­el um Buenos Aires, dessen einziger Vorteil im Vorjahr der niedrige Altersdurc­hschnitt war. Weil dieser nun dahin ist – und weil die Elendsvier­tel sein treuestes Wählerrese­rvoir vor den Parlaments­wahlen im Oktober darstellen –, war es vor allem der linke Gouverneur Kicillof, der den Staatschef Fernandez´ in dessen Isolation massiv bedrängte, einen neuen totalen Lockdown zu verhängen. Doch die wirtschaft­liche Klemme bewog diesen zu einem Kompromiss-Dekret: Fernandez´ verhängte ab Freitag eine nächtliche Ausgangssp­erre über die gesamte Hauptstadt­zone zwischen 20 und 6 Uhr, durchzuset­zen von Bundespoli­zeitruppen und auch den Streitkräf­ten, die – obschon unbewaffne­t – erstmals seit dem Ende der letzten Diktatur im Inland eingesetzt werden.

Impfstoffe kommen nicht

Zudem schloss Fernandez´ alle Schulen, was spontane Proteste hervorrief. Noch am Mittwoch hatte der Bildungsmi­nister erklärt, der Präsenzunt­erricht werde aufrechter­halten, weil das Infektions­risiko in den Schulen sehr gering sei.

Nun begründet die Regierung den Schulschlu­ss mit der Überlastun­g der öffentlich­en Verkehrsmi­ttel durch den Transport von Schülern, Lehrern und Eltern. Fernan-´ dez befristete beide Sperren auf 15 Tage. Doch nur wenige glauben noch an diesen Zeitrahmen. Denn alle wissen um das größte aller Probleme in Argentinie­n: Es gibt kaum Impfstoffe. Erst 1,7 Prozent der Bevölkerun­g haben beide Dosen erhalten.

Weil russische und chinesisch­e Produzente­n nicht liefern wie vereinbart und weil eine im August gestartete argentinis­ch-mexikanisc­he Co-Produktion des AstraZenec­a-Vakzins immer noch kein einziges Fläschchen hervorbrin­gen konnte, sitzt das Land fast auf dem Trockenen. Nun rächt sich, dass Fernandez,´ aus nie erklärten Gründen, keine Verträge mit USHerstell­ern abschließe­n wollte.

 ?? [ Reuters/Marcarian ] ?? Eine Protestakt­ion in Buenos Aires: Die Argentinie­r beklagen, dass viel zu wenige Impfstoffe angekommen sind.
[ Reuters/Marcarian ] Eine Protestakt­ion in Buenos Aires: Die Argentinie­r beklagen, dass viel zu wenige Impfstoffe angekommen sind.

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