Auf Argentinien rast ein „Corona-Tsunami“zu
Pandemie. Das südamerikanische Land befindet sich in der Klemme: Die Armut steigt genauso an wie die Inflation. Gleichzeitig breiten sich die Mutationen des Virus aus. Auch bei den Impfstoffen sitzen die Argentinier auf dem Trockenen.
Buenos Aires. Die einzig gute Nachricht vermeldete Alberto Fernan-´ dez am Mittwochabend zuerst: Seine Ärzte hätten ihn nach überstandener Covid-Infektion gesund geschrieben. Zwölf Tage hatte Argentiniens Präsident isoliert im Gärtnerhaus der Präsidialresidenz im Vorort Olivos verbringen müssen, nachdem bei ihm Beschwerden auftauchten.
Er war der 19. Covid-positive Staatschef – aber der erste erkrankte geimpfte unter ihnen. Auch wenn ihn zwei Dosen Sputnik V nicht vor der Ansteckung bewahrten, ersparten sie dem 62-Jährigen zumindest ein Drama.
Genau das droht vielen der 45 Millionen Argentinier. Ein wahrhaftiger „Tsunami“rase auf das Land zu, warnte kürzlich der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof. Dessen Regierungsbezirk beherbergt den „conurbano bonaerense“, den enormen Armutsgürtel um die Hauptstadt, mit etwa 1600 Elendsquartieren. Diese sind im Vorjahr weiter gewachsen, nachdem acht Monate Quarantäne die ohnehin schon schwer angeschlagene Wirtschaftsleistung um noch einmal zehn Prozent fallen ließen. Ende 2020 waren 42 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht.
Die Elendsviertel wachsen
Dieses Elend nahm in den vergangenen drei Monaten noch zu, weil 2021 die Preise stark stiegen. Dabei verteuerten sich Lebensmittel noch deutlicher – und das trifft wiederum vor allem die Armen. Ökonomen erklären den Anstieg der Inflation mit jenen zwei Billionen Pesos (etwa 18 Milliarden Euro), die im Vorjahr zusätzlich gedruckt wurden, um die Lockdown-Kosten zu bezahlen. Eine solche Anstrengung könne sich Argentinien nicht mehr leisten, beteuert der Finanzminister, Mart´ın Guzman,´ in dessen Haushaltsentwurf für 2021 keine Pandemiekosten eingeplant wurden.
Entsprechend fragil muss sich Argentinien nun seiner dritten Covid-Welle entgegenstellen, die in den vergangenen Tagen enorm angewachsen ist. Seit März 2020 registrierte das Land 58.542 CovidTote. Obwohl immer noch viel zu wenig getestet wird, liegen die Positivwerte der vergangenen Tage deutlich über den Rekordzahlen im vergangenen Oktober. Am Mittwoch registrierten die Behörden mehr als 25.000 Neuinfektionen. Wegen der niedrigen Testquote kalkulieren Epidemiologen, dass die reale Ziffer das Vierfache betragen dürfte. Schon die offiziell ermittelten Werte erreichen dramatische Dimensionen: In den Vierteln der Hauptstadtzone liegen die Inzidenzwerte bei über 900 Fällen auf 100.000 Einwohner. Spitzenwerte in einigen Kommunen erreichen bis zu 4500 Fälle auf 100.000.
Mutationen und Pendler
Fachärzte erklären diesen gewaltigen Ausbruch mit der lokalen Ausbreitung hoch ansteckender Varianten. Sowohl die britische als auch die Manaus-Mutation wurden von Reisenden importiert und konnten sich leicht ausbreiten, weil das Land praktisch alle Schutzmechanismen des Vorjahres hat schleifen lassen, um die sieche Wirtschaft wiederzubeleben. Im südlichen Spätsommer sind Straßen, Busse und Züge voll von Pendlern – darunter jenes informelle Heer aus Tagelöhnern, Putzfrauen und Gärtnern, die ihre Familien von Tag zu Tag durchbringen müssen.
Die Behörden melden, dass die nun registrierten Infizierten zum Großteil jüngere Menschen sind, die meistbetroffene Altersgruppe ist jene zwischen 20 und 39 Jahren, deutlich höher als im Vorjahr. Allerdings ist das keine beruhigende Nachricht mehr, denn die neuen Varianten attackieren auch zunehmend Jüngere.
Und: Wenn solche Patienten auf Intensivstationen kommen, bleiben sie oft wochenlang dort, was das von einem Jahr CovidKampf schon schwer angeschlagene Gesundheitssystem massiv bedroht.
Das gilt vor allem für den Armutsgürtel um Buenos Aires, dessen einziger Vorteil im Vorjahr der niedrige Altersdurchschnitt war. Weil dieser nun dahin ist – und weil die Elendsviertel sein treuestes Wählerreservoir vor den Parlamentswahlen im Oktober darstellen –, war es vor allem der linke Gouverneur Kicillof, der den Staatschef Fernandez´ in dessen Isolation massiv bedrängte, einen neuen totalen Lockdown zu verhängen. Doch die wirtschaftliche Klemme bewog diesen zu einem Kompromiss-Dekret: Fernandez´ verhängte ab Freitag eine nächtliche Ausgangssperre über die gesamte Hauptstadtzone zwischen 20 und 6 Uhr, durchzusetzen von Bundespolizeitruppen und auch den Streitkräften, die – obschon unbewaffnet – erstmals seit dem Ende der letzten Diktatur im Inland eingesetzt werden.
Impfstoffe kommen nicht
Zudem schloss Fernandez´ alle Schulen, was spontane Proteste hervorrief. Noch am Mittwoch hatte der Bildungsminister erklärt, der Präsenzunterricht werde aufrechterhalten, weil das Infektionsrisiko in den Schulen sehr gering sei.
Nun begründet die Regierung den Schulschluss mit der Überlastung der öffentlichen Verkehrsmittel durch den Transport von Schülern, Lehrern und Eltern. Fernan-´ dez befristete beide Sperren auf 15 Tage. Doch nur wenige glauben noch an diesen Zeitrahmen. Denn alle wissen um das größte aller Probleme in Argentinien: Es gibt kaum Impfstoffe. Erst 1,7 Prozent der Bevölkerung haben beide Dosen erhalten.
Weil russische und chinesische Produzenten nicht liefern wie vereinbart und weil eine im August gestartete argentinisch-mexikanische Co-Produktion des AstraZeneca-Vakzins immer noch kein einziges Fläschchen hervorbringen konnte, sitzt das Land fast auf dem Trockenen. Nun rächt sich, dass Fernandez,´ aus nie erklärten Gründen, keine Verträge mit USHerstellern abschließen wollte.