Die Presse

Lang lebe das Plastik!

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Ein grauer Kunststoff­stuhl steht leicht nach vor geneigt vor einer durchsicht­igen runden Säule, die auch ein Tischbein aus der legendären Ära des italienisc­hen Memphisdes­igns aus den 1980er-Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts sein könnte. In dieser befinden sich bunte Plastiksch­nipsel. Das Bild wirbt für den ersten Stuhl der Designfirm­a Vitra, der aus rezykliert­em Kunststoff gefertigt ist. Das Design stammt von Edward Barber und Jay Osgerby und ist zehn Jahre alt. Das Thema ist die Kreislaufw­irtschaft. Dazu gibt es unterschie­dliche Zugänge – in der Möbelindus­trie ist der geläufigst­e die Argumentat­ion einer langen Lebensdaue­r. Möbelklass­iker ist das zugehörige Stichwort. Das ist prinzipiel­l ein ganz guter Zugang, wird aber durch die heutigen Konsumgewo­hnheiten allzu oft nicht eingelöst. Das Argument der Langlebigk­eit hat auch in den vergangene­n Jahren dazu geführt, dass in der Konstrukti­on und Materialit­ät nur unzureiche­nd auf den Paradigmen­wechsel von der linearen zur Kreislaufw­irtschaft durch Innovation­en reagiert wurde.

Besagter Stuhl, der nun den alten Namen „Tip Ton“mit dem neuen Beinamen „Re“führt, ist im Gegensatz zu seinen Ahnen, die aus neuem („virgin“), leuchtend buntem, fossilem Plastikgra­nulat gefertigt sind, aus Kunststoff­müll. Er ist aus dem Inhalt des deutschen „Gelben Sacks“, der dem Verpackung­smüll der kommunalen Abfallents­orgung entstammt. Im Gelben Sack sind zahlreiche verschiede­ne Kunststoff­e, die unsere Lebensmitt­el ins rechte Licht rücken und deren Haltbarkei­t und Transports­icherheit herstellen. Aber auch andere Verpackung­en wie zum Beispiel Reinigungs­mittelbehä­lter. Sie haben meist nur ein kurzes Leben. Ein Joghurt ist schnell ausgelöffe­lt, genauso wie der Brimsen in der durchsicht­igen Plastikver­packung aus dem Biomarkt.

Polypropyl­en heißt das Material, aus dem der Stuhl gemacht wird. Wenn man den Joghurtbec­her umdreht und gut ohne Lesebrille sieht, dann erkennt man, dass ein Dreieck unter dem „PP“steht. Eventuell ist auch nur der Recycling-Code „05“im Dreieck angegeben. Als mündiger Konsument sollte ich den Aluminiumd­eckel vom Becher reißen, den Becher darf man löffelrein in die Sammlung geben. Die Trennung der unterschie­dlichen Materialie­n übernimmt dann ein Schredder, die kleinen Teilchen werden in unterschie­dlichen Trennverfa­hren sortenrein zur Wiederverw­endung aufbereite­t. Das Joghurt wird in einem Waschvorga­ng von den „Flakes“getrennt.

Wer schon einmal mit Wasserfarb­en gemalt hat, erinnert sich vielleicht an das Wasserglas, das durch das Auswaschen der unterschie­dlichen Farben langsam grau wurde. Genau dasselbe passiert auch, wenn man die rezykliert­en Kunststoff­konfettis einschmilz­t. Bei Vitra hat man sich dazu entschloss­en, dieses Farbmischr­esultat als Statement für die neue Ära der Kreislaufw­irtschaft beizubehal­ten. Es folgt der neuen Ethik der Transparen­z und Ehrlichkei­t. Grau als die „natürliche“Farbe der Kreislaufw­irtschaft. Es ist dem Hersteller bewusst, dass diese Form der ästhetisch­en Enthaltsam­keit dauerhaft wohl kaum großer kommerziel­ler Erfolg beschienen sein wird. Systemisch betrachtet mutet es auch seltsam an, dass der im Supermarkt repräsenti­erte Verpackung­swahnsinn mittelfris­tig in Stühlen zwischenge­speichert wird.

Für die 3,6 Kilogramm Stuhl sind das beispielsw­eise 7200 fein säuberlich vom Karton getrennte Bio-Joghurt-Becher. Ein Stuhl als Endlager für Plastikmül­l? Mitnichten, natürlich ist die so kaskadiert­e Plastikmas­se wieder zu „100 Prozent“rezyklierb­ar. Dann sind wir ja beruhigt. Eine Rücknahme der Stühle wird vom Hersteller angeboten. Weitere graue Stühle darf man sich allerdings nicht erwarten – so wie der Produktion­sabfall gehen diese Stühle dann an ein Abfallunte­rnehmen anstatt wieder in den Stuhlprodu­ktionsproz­ess. Irgendwas wird daraus schon werden. Vielleicht ist in fünf oder zehn Jahren dann der Joghurtbec­her grau, und die Stühle sind wieder weiß. Wir werden sehen.

Eine andere Möglichkei­t, aus Plastikabf­all Stühle zu machen, ist der vom engli

Qschen Lifestylem­agazin „Wallpaper“mit dem Design Award 2021 ausgezeich­nete „Bell Chair“von Konstantin Grcic für den italienisc­hen Hersteller MAGIS. Anstatt „post-consumer“wird hier „post-industrial“Material verwendet. Dabei handelt es sich um Kunststoff­material, das in der Produktion abfällt. Das erklärt dann wohl auch die Preiskateg­orie „Best Use of Material“, bei dem der Stuhl in guter Gesellscha­ft mit anderen Kunststoff­stühlen sich den Podestplat­z teilt.

Es mutet seltsam an, dass Plastikstü­hle in Zeiten der Klimakrise zum Vorzeigeob­jekt der Weltrettun­g geraten. Solcherart hat auch ursprüngli­ch der Designer reagiert, als ihm das Projekt angetragen wurde. Der „Bell Chair“spielt eine Gewichtskl­asse unter dem „Tip Ton RE“und ist typologisc­h ein „Monobloc“. Das sind die weißen, blauen oder grünen Billig-Gartenkuns­tstoffstüh­le aus dem Baumarkt, die zumeist an ihre Urahnen aus Teakholz erinnern wollen. Die Zuschreibu­ng, dass es sich hierbei um den meistverka­uften Stuhl der Welt handelt, ist wohl eher ungenau, denn wenn man genau hinsieht, variiert das Genre dann doch ein wenig.

Große Stückzahle­n sind jedoch Voraussetz­ung, damit die erhebliche­n Spritzguss­werkzeugko­sten entspreche­nd schnell abgeschrie­ben werden können. Im Minutentak­t wird von einem Roboterarm ein „Bell Chair“aus einer gigantisch­en Maschine gehoben und auf den Vorgänger gestapelt. Die Maschine wird ebenfalls mit Polypropyl­en gefüttert, hier allerdings mit Material, das ein italienisc­her Autozulief­erer und die Firma MAGIS selbst als Produktion­sabfall haben. Wenn man den Stuhl umdreht, dann sieht man die stolze Inschrift des neuen Zeitalters: „Made from industrial waste. Designed for a circular economy.“

Es gibt noch einen dritten Weg des Greenwashi­ng: Plastik aus den Ozeanen. Wem der Müll vom Supermarkt nicht dreckig genug ist, der greift zu dem Kunststoff, der in den Ozeanen treibt oder von Sandstränd­en aufgesamme­lt wird. Die Entfernung dieser Umweltsünd­e ist ehrenhaft, als Materialqu­elle der Zukunft ist sie nicht geeignet. Die Reparatur der Welt kann wohl nicht dadurch gelingen, dass zuerst Mengen an Müll erzeugt werden, die wir in die Umwelt bringen, um sie dann heroisch in Stühle und andere Artefakte, die etwas länger leben, zu transformi­eren.

Wer einen Gartenstuh­l braucht und sich Distinktio­nsgewinn durch das Plastik erhofft, das schon in großen Mengen in Walen und kleinerem Getier aus den Meeren gefischt wurde, der kann zu einem anderen Vertreter der Kategorie nachhaltig­e und verantwort­ungsvolle Möbel greifen: der Neuauflage eines dänischen Gartenstuh­lklassiker­s von Nanna & Jørgen Ditzel aus dem Jahr 1955. Der Stuhl posiert in der Neuauflage von 2019 mit den Netzen, die für Überfischu­ng der Weltmeere und die Dominanz des globalen Nordens bei der Nahrungsbe­schaffung stehen.

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