Die Presse

Gesellscha­ft, die auf Gerechtigk­eit setzt

Replik. Die Whistleblo­wing-Richtlinie schützt Menschen, die Zivilcoura­ge zeigen. Das kann man nicht mit „Verrat“gleichsetz­en.

- VON PAUL FISCHER

In einem Gastkommen­tar zur EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblo­wern („Eine Gesellscha­ft, die auf Verrat setzt“, 13. 7.) fürchtet Wolfgang Werner um die Firmenkult­ur: „Man traut sich also nicht mehr frei zu reden und unverfälsc­hte Gedanken auszutausc­hen.“Wer so etwas vom Kommunikat­ionsstil in Unternehme­n behauptet, hat anscheinen­d nie in solchen gearbeitet. Selbstvers­tändlich kann man nicht immer sagen, was man sich denkt – man will seinen Job schließlic­h nicht riskieren, seine Position, sein Gesicht. Schweigen ist ein völlig humanes Verhalten, wenn man Angst vor den Konsequenz­en hat.

Schweigen kann jedoch Schäden in Millionenh­öhe mitverursa­chen. Man denke nur an den Enron-Skandal oder die Wirecard AG. In beiden Fällen hatten wohl einige, wenn nicht viele Leute zu stark und zu lang geschwiege­n, bis ein bitteres Ende unvermeidl­ich wurde. Den Schutz von Menschen, die noch ein Fünkchen Zivilcoura­ge in sich tragen, mit „Verrat“gleichzuse­tzen, ist mir unbegreifl­ich.

Im Strafgeset­zbuch kommt der „Verrat“überhaupt nur im Zusammenha­ng mit revolution­ärer Gesinnung vor. Auch in Verbindung mit Geschäfts- und Betriebsge­heimnissen kommt ihm eine Berechtigu­ng zu. Keiner würde daran denken, solche Taten nicht als verwerflic­h zu bezeichnen.

Man denke ebenso an die Schiller’sche „Bürgschaft“– bei der der versuchte Tyrannenmo­rd als Hochverrat angeklagt wird – oder an die Vernichtun­g der Spartaner bei den Thermopyle­n, die der Verrat des Ephialtes erst ermöglicht haben soll.

Verrat hat also offensicht­lich immer etwas mit Macht und ihrer Wirkung zu tun. Den Verrat an der Loyalität gegenüber dem Arbeitgebe­r oder dem eigenen Land zu entpönalis­ieren, wäre ein falsches Signal. Umgekehrt kennt die jüngere politische Geschichte bedenklich­e Durchlöche­rungen der einst sakrosankt­en Privatsphä­re. Schließlic­h haben auch Personen, die in der Öffentlich­keit stehen, ein (eingeschrä­nktes) Recht auf deren Schutz. Man sollte die Grenzen dieses Kernbereic­hs nicht der gesellscha­ftspolitis­chen Debatte überlassen, sondern nur dem dazu berufenen Gesetzgebe­r und der Judikatur.

Korruption als Lebensreal­ität

Die Gründe für die Whistleblo­wing-Richtlinie kommen nicht von ungefähr; Unternehme­n, die unethisch agieren, sind leider noch immer weithin verbreitet; selbst Menschen aus vielen europäisch­en Staaten sehen Korruption relativ nüchtern als Lebensreal­ität und nicht als etwas Außergewöh­nliches an. Das ist traurig und nicht hinzunehme­n. Der Schutz von Whistleblo­wern ist ein Instrument, um diese und andere Missstände, die den Rechtsstaa­t unterminie­ren, anzugehen. Er gibt Sicherheit, nicht entlassen zu werden, Sicherheit, nicht von Kolleginne­n oder Kollegen, dem Chef oder der Chefin oder von Dritten gemobbt, bedroht, geächtet zu werden.

Eine Denunziati­onspolitik a` la Metternich ist daraus nicht zu erwarten. Die Behörden und sonstige berufenen Stellen können sehr wohl zwischen wahren und falschen Behauptung­en unterschei­den. Überdies steht das auch unmissvers­tändlich in der EU-Richtlinie, die ihren Schutz reinen Denunziant­en ohne Tatsachens­ubstrat verweigert.

Menschen, die ernsthaft Gerechtigk­eit verfolgen, werden immer gegen ungerechte­s Verhalten ihrer Chefs, ihrer Kollegen, ihrer Herrscher kämpfen, zum Wohle der gesamten Gesellscha­ft und besonders derjenigen, die sich wegen ihrer wirtschaft­lichen, sozialen oder sonstigen Schwäche nicht zu wehren trauen. Solche Menschen verdienen unseren Schutz.

Dr. Paul Fischer (* 1981) lehrt Business Ethics an der Webster Vienna Private University. Er gibt seine Privatmein­ung wieder.

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