Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit setzt
Replik. Die Whistleblowing-Richtlinie schützt Menschen, die Zivilcourage zeigen. Das kann man nicht mit „Verrat“gleichsetzen.
In einem Gastkommentar zur EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern („Eine Gesellschaft, die auf Verrat setzt“, 13. 7.) fürchtet Wolfgang Werner um die Firmenkultur: „Man traut sich also nicht mehr frei zu reden und unverfälschte Gedanken auszutauschen.“Wer so etwas vom Kommunikationsstil in Unternehmen behauptet, hat anscheinend nie in solchen gearbeitet. Selbstverständlich kann man nicht immer sagen, was man sich denkt – man will seinen Job schließlich nicht riskieren, seine Position, sein Gesicht. Schweigen ist ein völlig humanes Verhalten, wenn man Angst vor den Konsequenzen hat.
Schweigen kann jedoch Schäden in Millionenhöhe mitverursachen. Man denke nur an den Enron-Skandal oder die Wirecard AG. In beiden Fällen hatten wohl einige, wenn nicht viele Leute zu stark und zu lang geschwiegen, bis ein bitteres Ende unvermeidlich wurde. Den Schutz von Menschen, die noch ein Fünkchen Zivilcourage in sich tragen, mit „Verrat“gleichzusetzen, ist mir unbegreiflich.
Im Strafgesetzbuch kommt der „Verrat“überhaupt nur im Zusammenhang mit revolutionärer Gesinnung vor. Auch in Verbindung mit Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen kommt ihm eine Berechtigung zu. Keiner würde daran denken, solche Taten nicht als verwerflich zu bezeichnen.
Man denke ebenso an die Schiller’sche „Bürgschaft“– bei der der versuchte Tyrannenmord als Hochverrat angeklagt wird – oder an die Vernichtung der Spartaner bei den Thermopylen, die der Verrat des Ephialtes erst ermöglicht haben soll.
Verrat hat also offensichtlich immer etwas mit Macht und ihrer Wirkung zu tun. Den Verrat an der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber oder dem eigenen Land zu entpönalisieren, wäre ein falsches Signal. Umgekehrt kennt die jüngere politische Geschichte bedenkliche Durchlöcherungen der einst sakrosankten Privatsphäre. Schließlich haben auch Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, ein (eingeschränktes) Recht auf deren Schutz. Man sollte die Grenzen dieses Kernbereichs nicht der gesellschaftspolitischen Debatte überlassen, sondern nur dem dazu berufenen Gesetzgeber und der Judikatur.
Korruption als Lebensrealität
Die Gründe für die Whistleblowing-Richtlinie kommen nicht von ungefähr; Unternehmen, die unethisch agieren, sind leider noch immer weithin verbreitet; selbst Menschen aus vielen europäischen Staaten sehen Korruption relativ nüchtern als Lebensrealität und nicht als etwas Außergewöhnliches an. Das ist traurig und nicht hinzunehmen. Der Schutz von Whistleblowern ist ein Instrument, um diese und andere Missstände, die den Rechtsstaat unterminieren, anzugehen. Er gibt Sicherheit, nicht entlassen zu werden, Sicherheit, nicht von Kolleginnen oder Kollegen, dem Chef oder der Chefin oder von Dritten gemobbt, bedroht, geächtet zu werden.
Eine Denunziationspolitik a` la Metternich ist daraus nicht zu erwarten. Die Behörden und sonstige berufenen Stellen können sehr wohl zwischen wahren und falschen Behauptungen unterscheiden. Überdies steht das auch unmissverständlich in der EU-Richtlinie, die ihren Schutz reinen Denunzianten ohne Tatsachensubstrat verweigert.
Menschen, die ernsthaft Gerechtigkeit verfolgen, werden immer gegen ungerechtes Verhalten ihrer Chefs, ihrer Kollegen, ihrer Herrscher kämpfen, zum Wohle der gesamten Gesellschaft und besonders derjenigen, die sich wegen ihrer wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Schwäche nicht zu wehren trauen. Solche Menschen verdienen unseren Schutz.
Dr. Paul Fischer (* 1981) lehrt Business Ethics an der Webster Vienna Private University. Er gibt seine Privatmeinung wieder.
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