Es ist nicht nur die EM: Wir haben ein Alkoholproblem
Fast jeder hat schon einmal getrunken. Das ist okay. Doch die Coronakrise zeigt: Unserer Gesellschaft fehlt eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Rausch.
Kaum jemand bezeichnet Alkohol als Droge. Alkohol, das ist der Spritzer, das Bier, der Cocktail, Teil der Getränkekarte.
Neunzehn verletzte Polizisten, 49 Festnahmen und Warnungen vor häuslicher Gewalt: Rund um das Finale der Europameisterschaft im Herrenfußball am Sonntag zeigte sich England von seiner schlechtesten Seite. Der Frust über die britische Niederlage spielte gewiss eine Rolle, doch das zugrunde liegende Problem geht weit über die Grenzen hinaus: Es ist der Alkohol.
Die einzige Droge, die man im Supermarkt kaufen kann, die einzige psychoaktive, süchtig machende Substanz, die keinerlei internationalen, legal verbindlichen Regulierungen unterliegt. Die Konsequenz: Fast jede Österreicherin, jeder Österreicher hat schon einmal Alkohol getrunken.
Nach Lettland verzeichnen wir den zweithöchsten Pro-Kopf-Konsum im OECD-Vergleich, bei 15 Prozent der Bevölkerung ist der Konsum problematisch, fünf Prozent gelten als alkoholkrank. 8000 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen des Alkoholkonsums.
Jede Gesellschaft braucht ihren Rausch, könnte man nun argumentieren. Schon Höhlenmalereien deuten darauf hin, dass halluzinogene Pilze konsumiert wurden, vor rund 6000 Jahren brauten die Sumerer die ersten Biere. Das Zusammenleben funktioniert nun mal nicht ohne einen Raum für Nicht-Verantwortlichkeit, in dem die geltenden Regeln zeitweise außer Kraft gesetzt, Hierarchien umgekehrt werden. Der Alltag braucht sein Gegenteil.
Das könnte man einfach zugeben, ja, wir Menschen wollen, benötigen die Ekstase. Und offen darüber reden: Für wen und unter welchen Umständen ist wie viel und welcher Alkohol gut? Doch stattdessen wird es tabuisiert, wie jeder Kontrollverlust, der als Schwäche verstanden wird, wo er doch eigentlich menschlich ist. Folglich ist unser Zugang zu Rauschmitteln voller Widersprüchlichkeiten.
Was einmal damit anfängt, dass kaum jemand Alkohol als Droge bezeichnen würde. Drogen, das sind Cannabis, Kokain, MDMA. Alkohol, das ist der Spritzer, das Bier, der Cocktail, Teil der Getränkekarte. Wer diese stille Übereinkunft stört, indem sie oder er ein Getränk ablehnt, erntet in vielen Kreisen gleich einmal schiefe Blicke. Die Nüchterne kann anderen den Spiegel vorhalten, in den niemand blicken will.
Ähnlich unlogisch ist die gesellschaftliche Vorstellung, wer von dem Problem am meisten betroffen ist. In einem Entwurf zu ihrer Alkoholstrategie, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vergangenen Monat veröffentlichte, wird empfohlen, bei künftigen Kampagnen auch das Trinkverhalten von Frauen im gebärfähigen Alter im Auge zu behalten. Was einerseits einen Großteil der Frauen auf ihren Uterus reduziert und andererseits etwas abseitig wirkt, da mittlerweile belegt ist, dass Alkoholismus Männer viel stärker betrifft als Frauen. Doch aus historischer Perspektive überrascht es nicht: Schon immer galten Frauen als schwächere Mitglieder der Gesellschaft und deshalb leichter beeinflussbar, was verführerische Reize betrifft.
Die Coronakrise hat unseren Zugang zu Suchtmitteln durcheinandergewirbelt. Zwar zeigt eine Erhebung des Sozialministeriums aus dem ersten Lockdown, dass 71 Prozent der Befragten ihren Alkoholkonsum nicht verändert haben, doch es bleiben Fragen offen: Ist es nicht ein Unterschied, ob zu Hause oder im Lokal konsumiert wird? Zwar fließt an der Bar so manches Getränk auch aus Gruppenzwang, doch schickt der Wirt den Sturzbetrunkenen irgendwann nach Hause; diese Kontrolle fehlt im eigenen Wohnzimmer.
Bei derartigen Umfragen werden zudem oft sozial erwünschte Antworten gegeben. Und die meisten Alkoholkranken begeben sich erst nach rund zehn Jahren in Behandlung.
Vieles deutet darauf hin, dass die Krise gerade erst begonnen hat. Ein gewaltiges Suchtproblem könnte also auf Österreich zurauschen. Es braucht einen Ausbau der Behandlungsmöglichkeiten, keine Frage. Und eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Problem.
Zur Autorin:
Anna Goldenberg ist Journalistin und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Paul Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt über Medien und Politik für den „Falter“.