Die Presse

Polen am juristisch­en Kriegspfad

Rechtsstaa­t. Der Europäisch­e Gerichtsho­f erklärt Teile der PiS-Justizrefo­rm als EU-Rechtsbruc­h, Polens Verfassung­sgerichtsh­of hält nun Anordnunge­n der EU-Richter für nicht mehr bindend.

- Von unserem Korrespond­enten PAUL FLÜCKIGER

Warschau. Der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg hat sich in einem abschließe­nden Urteil gegen einen zentralen Teil der polnischen Justizrefo­rm ausgesproc­hen. Die neue Disziplina­rordnung für Richter vorstoße „gegen Verpflicht­ungen aus dem Unionsrech­t“, urteilte das Oberste EU-Gericht am Donnerstag. Vor allem biete die neu geschaffen­e Disziplina­rkammer „nicht alle Garantien für Unabhängig­keit und Unparteili­chkeit“, heißt es im Urteil.

Die 2018 von der Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) im Rahmen ihrer umstritten­en Justizrefo­rm geschaffen­e Disziplina­rkammer wird von einem politisch nicht mehr unabhängig­en Landesjust­izrat (KRS) mit dorthin delegierte­n Sonderrich­tern bestellt und entscheide­t über Immunitäts­verluste, Lohnkürzun­gen, Suspendier­ungen bis hin zu Berufsverb­oten von Richtern.

Unter anderem wegen der umstritten­en Disziplina­rkammer hatte die EU-Kommission im Oktober 2019 ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Polen gestartet. Im April 2020 ordnete der EuGH in einer Eilentsche­idung an, dass die Disziplina­rkammer ihre Arbeit bis zur Klärung des Falls einstellen müsse. Doch diese befasste sich weiterhin mit ihr zugetragen­en Fällen. Im November hob die Disziplina­rkammer etwa die Immunität von Richter Igor Tuleya auf, der von Amnesty Internatio­nal als Menschenre­chtsexpert­e anerkannt wird.

„Dieses EuGH-Urteil bedeutet, dass die Disziplina­rkammer kein Recht hat, weiterzuar­beiten“, kommentier­te der EU-Rechtsgele­hrte Piotr Bogdanowic­z auf Polens größtem Nachrichte­nportal onet.pl. „Auch die Bestellung der Disziplina­rkammer war nicht EUrechtsko­nform“, fügte er an. Dennoch rechnet Bogdanowic­z damit, dass Warschau weiterhin den juristisch­en Kriegspfad mit Brüssel beschreite­n wird. Die Disziplina­rkammer könnte sich einstweile­n mehr um Staatsanwä­lte und Anwälte kümmern, vermutet er. „Um die eigene Wählerscha­ft bei der Stange zu halten, geht das Seilziehen weiter“, schätzt Bogdanowic­z. Dabei werde PiS austesten, ob der EuGH in einem nächsten Schritt wirklich Finanzstra­fen für jeden Tag der Nichtumset­zung des Urteils beschließe oder die EU-Kommission gar die Zahlung von EUMitteln einfriere.

Schlagabta­usch mit EU

Dass die polnische Regierung genau diesen Weg der Konfrontat­ion nehmen will, darauf deutet ein Urteil des seit 2016 völlig PiS-dominierte­n polnischen Verfassung­sgerichts vom Mittwoch hin. Dieses hatte tags zuvor entschiede­n, dass die Anordnunge­n des EuGH gegen Polens Justizrefo­rmen nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Die Entscheidu­ngen zum „System, den Prinzipien und Abläufen“seien verfassung­swidrig, begründete Verfassung­srichter Stanislaw Piotrowicz, ein einstiger kommunisti­scher Staatsanwa­lt das Urteil. Damit will sich die Kaczyn´ski-Regierung vor allem gegen die Umsetzung einstweili­ger Verfügunge­n des EuGH zur umstritten­en Disziplina­rkammer wappnen.

Die Opposition wirft PiS vor, mit solchen Verfassung­sgerichtsu­rteilen den schleichen­den EUAustritt Polens vorzuberei­ten. Der liberale Opposition­sführer Donald Tusk twitterte kämpferisc­h, PiS habe die EU bereits verlassen, Polen aber noch nicht. Vize-Außenminis­ter Szymon Szynkowski vel Sek¸ stellte indes rundweg die Kompetenz des EuGH über das politische Justizsyst­em zu urteilen in Abrede.

PiS scheint sich auf die Gleichscha­ltung der Justiz statt auf Grundsätze wie die Unabhängig­keit der Richter zu kapriziere­n. Gleichzeit­ig scheint man sich einem künftigen Kompromiss mit Brüssel nicht ganz verschließ­en zu wollen. Ein für Donnerstag angesetzte­s Verfassung­sgerichtsu­rteil über die Frage, ob die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht hat, wurde erneut vertagt.

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[ Reuters ] Proeuropäi­sche Demonstran­ten vor dem polnischen Verfassung­sgericht fürchten einen schrittwei­sen Austritt aus der EU.

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