Die Frau in Wuhan, die das Schweigen bricht
Buch. Chinas KP feiert den 100. Geburtstag. Wie „ihr Volk“mit blutigen Erfahrungen umgeht, lernt man in Fang Fangs Roman „Weiches Begräbnis“über die Gräuel der „Bodenreform“besser verstehen. Gerade weil er kein Dissidentenroman ist.
Als 2020 in ihrer Heimatstadt Wuhan die Pandemie ausbrach, saß Fang Fang, eine in China sehr bekannte Schriftstellerin, mittendrin. Sie begann ein Online-Tagebuch, teilte ihre Beobachtungen und Gefühle, erzählte vom Kampf in den Spitälern, von unfähigen und korrupten Behörden, medialer Zensur, von Einsamkeit, Leid und gegenseitiger Hilfe. Sehr bald kam ihr „Wuhan Diary“in den USA und in Deutschland als Buch heraus, während gegen die Autorin in China eine Social-Media-Attacke wütete – sie sei eine Vaterlandsverräterin, schreibe „mit der Feder des CIA“.
Doch nicht erst seit ihrem „Wuhan Diary“ist Fang Fang Zielscheibe orchestrierter Kampagnen von außerhalb und innerhalb der kommunistischen Führung, die derzeit pompös die Gründung ihrer Partei am 23. Juli vor 100 Jahren feiert. Begonnen hat es mit einem großen, 2016 veröffentlichten Roman – der jetzt auch auf Deutsch vorliegt.
„Weiches Begräbnis“erzählt von den Grausamkeiten der „Bodenreform“in den ersten Jahren des kommunistischen China, 1949 bis 1952. Im Zuge der systematischen Enteignung wurden die (oft selbst nicht wohlhabenden) Grundbesitzer von den lokalen Bauern, den eigenen Nachbarn erniedrigt, oft gefoltert, sogar liquidiert – wenn sie sich nicht, um der Schande zu entgehen, selbst umbrachten. Es war eine von oben gelenkte Massenhysterie.
„Wir wollen kein weiches Begräbnis“
Zunächst sehr erfolgreich bei Kritikern und Lesern, sogar mit teilweise renommierten Literaturpreisen bedacht, wurde der Roman durch einen Shitstorm zum unerwünschten Buch. Er verschwand aus den Buchhandlungen, der Verlag druckte ihn nicht mehr.
Trotzdem ist die 66-jährige Autorin keine Dissidentin. „Der Roman ist bei aller Sympathie für die Opfer weder ein Roman gegen die Bodenreform noch gegen das Regierungssystem“, sagt sein Übersetzer, der in China lebende Sinologe Michael KahnAckermann. Fang Fang lässt darin verständnisvoll unvereinbare Haltungen nebeneinanderstehen – ob es nun um die Bodenreform oder um die Frage geht, ob Erinnern oder Vergessen sinnvoller ist. Sie selbst allerdings hat sich für das Erinnern entschieden, findet, dass das zugeschüttete Leid erzählt gehört. Und spricht dabei durchaus auch im Namen anderer. „Wir wollen keine weichen Begräbnisse“, beschließt sie ihr Nachwort.
Wir, das sind (mindestens) Fang und eine alte, demente Frau, die sie kennengelernt hat. Verängstigt sagte die Frau immer wieder dasselbe: Sie wolle „kein weiches Begräbnis“. Die Autorin fand schließlich heraus, was das bedeutet. Es war die Umschreibung für das Schicksal so vieler Opfer der Bodenreform: Sie wurden ohne Begräbnis, ohne Sarg verscharrt.
Auch ein Mensch, der sich radikal gegen seine Vergangenheit abschirme, erlebe eine Art „weiches Begräbnis“, meint Fang Fang. Sie geht in ihrem Roman ebenfalls von einer alten, dementen Frau aus. Und holt Bruchstück um Bruchstück ihre grauenhafte Vergangenheit ans Licht: die Demütigung und Ermordung ihrer Angehörigen, die einsame Flucht mit ihrem Baby, das beim Sturz ins Wasser ertrinkt. Sie selbst wird gerettet, doch ihre Erinnerung ist weg. Erst im Alter bröckelt die schützende Mauer des Vergessens: „Als zerre etwas an ihrem Gedächtnis, womit sie um keinen Preis in Berührung kommen wollte.“
Fang Fang gehört zu einer Generation mit schweigenden Eltern. Sie habe von den Schrecklichkeiten der Bodenreform keine Ahnung gehabt, erzählt sie. Vergessen sei nicht nur verordnet, sondern auch selbst gewollt gewesen – um innerlich zu überleben, die Kinder zu schonen.
Vergangenes Unrecht gehöre erinnert, aufgearbeitet, wiedergutgemacht – diese Haltung ist in Österreich oder Deutschland zumindest offiziell seit Langem Konsens. Die Nachkommen der Opfer in Fang Fangs Roman sind sich darüber keineswegs einig. Auch Übersetzer Kahn-Ackermann hat diese Erfahrung gemacht. „Die Bereitschaft, Vergangenheit mit Schweigen zuzudecken, ist sehr weit verbreitet. Und das macht nicht nur der Druck der Zensur.“
Wie erklärt sich Kahn-Ackermann, dass der Roman trotz seines brisanten Inhalts anfangs so wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde? „Die Kritiker und Preisverleiher sind davon ausgegangen, dass sich das Buch innerhalb der Grenzen des Tolerablen bewegt“, meint er. „Der Angriff kam dann auch nicht von offizieller Seite, sondern von interessierten Kräften in und außerhalb der Partei.“
„Linke Extremnationalisten“
Das seien, so Kahn-Ackermann, „NeoMaoisten und linke Extremnationalisten, die unter Xi Jinping an Einfluss gewonnen haben“. Bei den Buchhandlungen habe sich dann viel „vorauseilender Gehorsam aufgrund früherer unerfreulicher Erfahrungen“eingestellt. Der Verlag selbst sei massiv unter Druck gesetzt worden.
Gelenkten „Volkszorn“für sich arbeiten lassen: Dieses Führungsrezept funktioniert in China also wie eh und je. Und während in den 1980er-Jahren Autoren durchaus an das Leiden der Opfer der Kulturrevolution erinnern konnten, ist heute wieder jede Kritik an der kommunistischen Vergangenheit tabu. „Kein einziger Teil des kommunistischen Gründungsmythos darf angetastet werden, aus Angst, das Ganze zu destabilisieren“, sagt Kahn-Ackermann. Er erzählt von der Sprachregelung zu Maos ökonomischer Kampagne „Großer Sprung nach vorn“in den Jahren 1959 bis 1961: Mehrere Millionen Hungertote brachte diese Politik – heute werde das eine „dreijährige Naturkatastrophe“genannt. Die Kulturrevolution wiederum werde in einer offiziellen Parteigeschichte als „gesellschaftliches Experiment“gegen Korruption bezeichnet.
Kahn-Ackermann vermisst im deutschsprachigen Raum aber auch den ernsthaften Willen, dieses Land und seine Menschen zu verstehen. „Kritiker erwarten von chinesischen Autoren, dass sie Dissidenten sind, alles muss sich als Dissidentenroman verkaufen lassen. Und das Publikum geht davon aus, dass man diese chinesischen Geschichten sowieso nicht versteht.“In Ländern wie Italien oder Frankreich sieht er mehr Neugier, in seiner Heimat, Deutschland, einen „tief sitzenden Provinzialismus“: „Die Welt außerhalb des eigenen Erfahrungskreises wird stereotyp wahrgenommen, und alles, was das Bild nicht bestätigt, wird ausgeblendet. Die Weltoffenheit hier ist extrem oberflächlich. Sie darf nicht anstrengend sein.“