Jazz gegen die Gentrifizierung – und mit viel Geschichte
Trompeter Ambrose Akinmusire überzeugte mit einem kryptischen Set im Wiener Porgy & Bess.
Auf dem Bühnenboden klebten keine Setlists. Trompeter Ambrose Akinmusire und seine drei Musiker brauchen derlei Erinnerungshilfen nicht. Jedes Stück, sei es noch so penibel im Studio arrangiert, wird live zum Ausgangspunkt ganz frischen Extemporierens. Manche Melodie überlebt den Prozess nur vage. Hat sie Glück, so ist sie im neu entstehenden Notendickicht schemenhaft wiederzuerkennen . . . Kollektive Jazzimprovisation der alten Schule also. Die etwa ein auf der Platte ruhiges Stück wie „Tide Of Hyacynth“in etwas Gefährliches verwandelte. Akinmusires fünftes Album, aus dem sich das Repertoire des Abends speiste, ist ein stilles, aber brodelndes Meisterwerk in der Nachfolge der bahnbrechenden Konzeptalben Archie Shepps aus den Siebzigerjahren. Der legendäre Shepp verfasste auch höchstpersönlich die Linernotes, sie gipfeln in einer so simplen wie herzlichen Formel: „This is the cat!“
Das Album mit dem fast nach Shakespeare klingenden Titel „On The Tender Spot Of Every Calloused Moment“ist nach einem Besuch Akinmusires in seiner Heimatstadt Oakland entstanden, die schon sein Debütalbum „Prelude“inspiriert hat. Damals waren es selige Erinnerungen, diesmal sind es die hässlichen sozialen Konsequenzen der Gentrifizierung, die zum emotionalen Ausgangspunkt für elf Stücke wurden. Deren Spektrum reicht von Nostalgie bis Wut, meist dominiert aber eine gewisse Art Abgeklärtheit. Live war es anders: Kontraste krachten aufeinander, lyrische Melodieaufbauten endeten abrupt in Post-BopFuriosi. Die Jazzgeschichte spielt immer mit: der frühe Miles Davis, der Freddie Hubbard der Siebzigerjahre, der Roy Hargrove der Neunziger. Die ihm gewidmete Ballade „Roy“zelebrierte Akinmusire ohne exzentrische Zutaten.