Die Hassliebe des Franz Kafka zu Wien
Hartmut Binder schließt eine Lücke in der Biografie des früh verstorbenen Genies.
Als der Eisenbahnzug – von Prag kommend – den Wiener Vorort Heiligenstadt durchfährt, weiß Franz Kafka, warum er zur Stadt Wien ein derart ambivalentes Verhältnis pflegt: Die Gegend ist grau und ärmlich, keineswegs eine Ouvertüre zur Einfahrt in die Reichshaupt- und Residenzstadt 1913. Wohl hat sich der Dichter aus Prag hier nie gefühlt – und dennoch verband ihn sehr viel mit der glitzernden Metropole, immerhin eine der größten Städte der Welt.
Die vielfältigen Beziehungen Kafkas zur Hauptstadt des habsburgischen Reiches, dessen Untertan Franz Kafka war, sind durch die detaillierte Forschungstätigkeit Hartmut Binders bis ins Letzte dokumentiert. Der Germanist ist schon mit vielfältigen Studien zur Prager deutschen Literatur hervorgetreten.
Nein, Kafka liebte diese Stadt nicht, ganz im Gegenteil. So verwundert es nicht, dass er nie als Tourist nach Wien kam, sondern immer nur als Durchreisender, dann als Kongressteilnehmer, als Liebender, als Schwerkranker und schließlich als Sterbender, der in einem Zinnsarg der Wiener Städtischen Bestattungsanstalt in die Heimat, an die Moldau, zurückkehren sollte.
Der üppig illustrierte Band versetzt uns in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, also in das pulsierende kulturelle, literarische und gesellschaftliche Wien. Binder führt uns zu all den Stätten, die der Schriftsteller aufsuchte, er benennt die von Kafka geschätzten und abgelehnten Wiener Schriftsteller und Bühnenkünstler und zeigt die Ursachen seiner WienAversion auf.
Kafka am Zionistenkongress
Spannend ist die Schilderung von Kafkas beruflicher Wien-Reise im September 1913, die ihn – als Angestellter der Prager Unfallversicherung – zu einem Internationalen Kongress in die Hauptstadt führte. Ihm viel wichtiger erschien aber der zur gleichen Zeit im Musikvereinssaal stattfindende XI. Zionistenkongress. Binder rekonstruiert geduldig die Kafkaschen Wege, seine Zeitpläne und wertet die erhaltenen Sitzungsprotokolle aus. Kafka beobachtete am 8. September von der Empore aus den Kongress, der in einer Woche 10.000 Besucher in die Stadt brachte. Er war schwer beeindruckt. Eine Zeit lang spielte er sogar mit dem Gedanken, ins Heilige Land zu übersiedeln. Anderseits stieß ihn aber das andauernde Gezänk der Akteure ab. Es muss ein ziemliches Chaos geherrscht haben: „Ergebnislose deutsche Reden, viel hebräisch . . .“
Sind Felice Bauer und Dora Diamant in der Kafka-Forschung mit Berlin assoziiert, so ist es Wien mit Milena Jesenska.´ Ihrer Beziehung zu Kafka, ihren gemeinsamen Wegen und den Orten ihrer Zusammenkünfte hat Binder die letzten Kapitel seiner Studie gewidmet, auch hier begleitet von – übrigens brillanten – Abbildungen der Orte und Personen.
Das Siechtum in Kierling kommt nur kurz zur Sprache. Die Lungentuberkulose nahm unaufhaltsam ihren Lauf und griff auf den Kehlkopf über. Nur noch unter Schmerzen konnte er Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen. Ein operativer Eingriff war wegen des schlechten Allgemeinzustands nicht mehr möglich. Im Sanatorium Hoffmann in Kierling erlöste ihn der Tod am 3. Juni 1924. Kafka wurde vierzig Jahre alt. Als offizielle Todesursache wurde „Herzlähmung“festgestellt. Das Sterbebuch des Sanatoriums notiert: „Am 5. VI. nach Prag überführt.“