EU soll Vielfalt in Einheit akzeptieren
Replik. Die Europäische Union ist gut beraten, sich aus der Gesellschaftspolitik Ungarns und anderer Staaten herauszuhalten.
Viel wurde bereits über das jüngst beschlossene „Anti-Pädophilen-Gesetz“in Ungarn berichtet und geschrieben. Auch der Europaabgeordnete und Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas, wies in einem Gastkommentar (10. Juli) auf eine nunmehr in Ungarn gelebte „offene sexuelle Diskriminierung“hin. Doch hält der Vorwurf dem Inhalt des Gesetzes tatsächlich stand?
Zunächst ist festzuhalten, dass sich das ungarische Gesetz nicht gegen homosexuell fühlende Menschen an sich wendet. Vielmehr sieht es eine Fülle von Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch vor (daher „Anti-Pädophilen-Gesetz“). Beispielsweise wurden die Strafen für die Herstellung, Verbreitung und den Besitz von Kinderpornografie erheblich verschärft.
Jedoch erregt ein einziger Absatz halb Europa: Dieser untersagt – vereinfacht dargestellt – jede Art von Werbung für Homosexualität bzw. diesbezügliche Informationsangebote an Schulen abseits der Heterosexualität. Die Regierung verteidigt das Verbot u. a. damit, dass ausschließlich den Eltern die Befugnis über die (Sexual-)Erziehung ihrer Kinder zukommen soll. Angesichts des in vielen EU-Staaten immer stärker forcierten LGBTQ-„Aufklärungsunterrichts“in öffentlichen Schulen ein nicht unberechtigter Einwurf.
Ungarn ist durch das neue Gesetz mitnichten zu einem Land gegen Homosexuelle geworden. In Ungarn darf selbstverständlich jeder seine sexuelle Orientierung frei ausleben. Zudem können bereits seit 1996 gleichgeschlechtliche Paare eine Partnerschaft eingehen, die vom Staat anerkannt wird. Wir sprechen hier von einer Zeit, als in Österreich noch ein Gesetz in Kraft war, das den einvernehmlichen Sexualverkehr zwischen einem 19-Jährigen zu einem 17-Jährigen untersagte und erst durch die viel gescholtene schwarz-blaue Regierung Anfang 2000 abgeschafft wurde.
Ungarn hat sich mit dem Gesetz gesellschaftspolitisch – in bewusstem Kontrast zum in Europa herrschenden Zeitgeist – für das klassische „Vater-MutterKind“-Familienmodell positioniert. Ist es deshalb angebracht, von der EU-Kommissionspräsidentin abwärts das Gesetz als „Schande“Europas zu bezeichnen? Ganz zu schweigen von der Forderung der Kürzungen der EU-Mittel bis hin zum Aufruf des niederländischen Regierungschefs, dass Ungarn in der EU „nichts mehr zu suchen“habe.
Sterbehilfe erlaubt
Selbstverständlich nicht. Die Europäische Union ist rechtlich „lediglich“ein Staatenbund souveräner Mitgliedstaaten. Demzufolge fallen Gesetze wie das jüngst in Ungarn beschlossene in die alleinige Kompetenz der Mitgliedsländer. Es hat sich beispielsweise auch kein Sturm der Entrüstung erhoben, als die Niederlande 2001 ein „Sterbehilfegesetz“erlassen haben und – ebenfalls gesellschaftspolitisch – in einem höchst sensiblen und bis heute umstrittenen Themenbereich vorgeprescht sind.
Ähnliches gilt in Sachen Fristenregelung. Sowohl in den Niederlanden als auch in Großbritannien ist ein legaler Schwangerschaftsabbruch bis zur 24. Woche möglich (in Österreich dagegen nur bis zur zwölften). Warum sollte es dann Polen nicht erlaubt sein, nach seinen (mehrheitlich katholischen) Wertvorstellungen restriktive Abtreibungsgesetze zu beschließen?
Es ist nicht Aufgabe der EU, den Mitgliedern zeitgeistige Wertvorstellungen aufzuzwingen oder mit Sanktionen zu drohen. Die EU sollte die Vielfalt in der Einheit respektieren. Andernfalls droht wirklich der viel beschworene „Einheitsstaat Europa“. Ob das im Sinne der Bürger ist?
Dr. Michael Etlinger ist Jurist und seit 1999 in verschiedenen Institutionen für den öffentlichen Dienst.
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