Die Presse

EU soll Vielfalt in Einheit akzeptiere­n

Replik. Die Europäisch­e Union ist gut beraten, sich aus der Gesellscha­ftspolitik Ungarns und anderer Staaten herauszuha­lten.

- VON MICHAEL ETLINGER

Viel wurde bereits über das jüngst beschlosse­ne „Anti-Pädophilen-Gesetz“in Ungarn berichtet und geschriebe­n. Auch der Europaabge­ordnete und Vizepräsid­ent des EU-Parlaments, Othmar Karas, wies in einem Gastkommen­tar (10. Juli) auf eine nunmehr in Ungarn gelebte „offene sexuelle Diskrimini­erung“hin. Doch hält der Vorwurf dem Inhalt des Gesetzes tatsächlic­h stand?

Zunächst ist festzuhalt­en, dass sich das ungarische Gesetz nicht gegen homosexuel­l fühlende Menschen an sich wendet. Vielmehr sieht es eine Fülle von Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlich­en vor sexuellem Missbrauch vor (daher „Anti-Pädophilen-Gesetz“). Beispielsw­eise wurden die Strafen für die Herstellun­g, Verbreitun­g und den Besitz von Kinderporn­ografie erheblich verschärft.

Jedoch erregt ein einziger Absatz halb Europa: Dieser untersagt – vereinfach­t dargestell­t – jede Art von Werbung für Homosexual­ität bzw. diesbezügl­iche Informatio­nsangebote an Schulen abseits der Heterosexu­alität. Die Regierung verteidigt das Verbot u. a. damit, dass ausschließ­lich den Eltern die Befugnis über die (Sexual-)Erziehung ihrer Kinder zukommen soll. Angesichts des in vielen EU-Staaten immer stärker forcierten LGBTQ-„Aufklärung­sunterrich­ts“in öffentlich­en Schulen ein nicht unberechti­gter Einwurf.

Ungarn ist durch das neue Gesetz mitnichten zu einem Land gegen Homosexuel­le geworden. In Ungarn darf selbstvers­tändlich jeder seine sexuelle Orientieru­ng frei ausleben. Zudem können bereits seit 1996 gleichgesc­hlechtlich­e Paare eine Partnersch­aft eingehen, die vom Staat anerkannt wird. Wir sprechen hier von einer Zeit, als in Österreich noch ein Gesetz in Kraft war, das den einvernehm­lichen Sexualverk­ehr zwischen einem 19-Jährigen zu einem 17-Jährigen untersagte und erst durch die viel gescholten­e schwarz-blaue Regierung Anfang 2000 abgeschaff­t wurde.

Ungarn hat sich mit dem Gesetz gesellscha­ftspolitis­ch – in bewusstem Kontrast zum in Europa herrschend­en Zeitgeist – für das klassische „Vater-MutterKind“-Familienmo­dell positionie­rt. Ist es deshalb angebracht, von der EU-Kommission­spräsident­in abwärts das Gesetz als „Schande“Europas zu bezeichnen? Ganz zu schweigen von der Forderung der Kürzungen der EU-Mittel bis hin zum Aufruf des niederländ­ischen Regierungs­chefs, dass Ungarn in der EU „nichts mehr zu suchen“habe.

Sterbehilf­e erlaubt

Selbstvers­tändlich nicht. Die Europäisch­e Union ist rechtlich „lediglich“ein Staatenbun­d souveräner Mitgliedst­aaten. Demzufolge fallen Gesetze wie das jüngst in Ungarn beschlosse­ne in die alleinige Kompetenz der Mitgliedsl­änder. Es hat sich beispielsw­eise auch kein Sturm der Entrüstung erhoben, als die Niederland­e 2001 ein „Sterbehilf­egesetz“erlassen haben und – ebenfalls gesellscha­ftspolitis­ch – in einem höchst sensiblen und bis heute umstritten­en Themenbere­ich vorgepresc­ht sind.

Ähnliches gilt in Sachen Fristenreg­elung. Sowohl in den Niederland­en als auch in Großbritan­nien ist ein legaler Schwangers­chaftsabbr­uch bis zur 24. Woche möglich (in Österreich dagegen nur bis zur zwölften). Warum sollte es dann Polen nicht erlaubt sein, nach seinen (mehrheitli­ch katholisch­en) Wertvorste­llungen restriktiv­e Abtreibung­sgesetze zu beschließe­n?

Es ist nicht Aufgabe der EU, den Mitglieder­n zeitgeisti­ge Wertvorste­llungen aufzuzwing­en oder mit Sanktionen zu drohen. Die EU sollte die Vielfalt in der Einheit respektier­en. Andernfall­s droht wirklich der viel beschworen­e „Einheitsst­aat Europa“. Ob das im Sinne der Bürger ist?

Dr. Michael Etlinger ist Jurist und seit 1999 in verschiede­nen Institutio­nen für den öffentlich­en Dienst.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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