Ein Eisbär und die Nazis
John von Düffels „Die Wütenden und die Schuldigen“ist ein verschenktes Buch. Wie gern wäre man einzelnen Figuren gefolgt – doch der Text ist überfrachtet und erstickt an seinem Streben nach Bedeutsamkeit.
Dass Autorinnen und Autoren fasziniert sind von den veränderten Bedingungen in Pandemie-Zeiten, versteht sich fast von selbst. Zu sehr stand die Welt während der vergangenen eineinhalb Jahre Kopf, und zu stark wurden die scheinbar selbstverständlichen Verhaltensweisen der Menschen auf die Probe gestellt. John von Düffel, bekannt geworden durch seine vom Wasser und vom Schwimmen handelnden Texte, zeigte schon in seinem vorigen Roman, „Die brennende See“, keine Scheu, sich auf aktuelle gesellschaftliche Themen einzulassen. Keine Überraschung also, dass er seinen neuen Familienroman „Die Wütenden und die Schuldigen“im Frühjahr 2020 spielen lässt und so seinen ohnehin von existenziellen Nöten geplagten Hauptfiguren eine neue, schwere Last aufbürdet.
Drei Generationen umspannt von Düffels Roman, dessen Kapitel abwechselnd die Perspektiven seiner Protagonisten einnehmen. Schauplatz ist im Wesentlichen die Uckermark, ein Landstrich im Nordosten Brandenburgs, der sich seit Sasaˇ Stanisiˇcs´ „Vor dem Fest“zu einem der beliebtesten Schauplätze der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur entwickelt hat. Richard lebt dort, ein Pfarrer im Ruhestand, der dem Tod entgegensieht, mit sich und seinem Leben ins Gericht geht und darauf hofft, dass das „Ende seiner Überflüssigkeit“bald eintritt. Kathi Kuhn, eine mit seiner Schwiegertochter Maria befreundete Palliativmedizinerin, sucht ihn auf, ungeachtet dessen, dass die aufkommende Pandemie die Arbeit in ihrer Klinik erschwert. In ihrem Arztkoffer hat die elegante Frau das Schmerzmittel Fentanyl, das Richards Leiden lindern soll.
Ausgehend von dieser Eingangsszene, entwickelt von Düffel eine klassische Familiengeschichte, in der eingestandene und verdrängte Verletzungen dominieren, psychische Beschädigungen, die im Rückblick ausgebreitet werden. Da ist Richard, ein ungläubiger Pfarrer, der sich mit einer zugelaufenen Katze namens Morpheus anfreundet und verzweifelt versucht, die hoch komplizierte Beziehung zu seinem Sohn Holger zu kitten. Dessen Ehe mit Maria ist längst gescheitert; nach einem Suizidversuch ist er in der Berliner Psychiatrie gelandet, unfähig, sich um die gemeinsamen Kinder Selma und Jakob zu kümmern.
Alle Figuren in diesem prall gefüllten Romankosmos befinden sich im Clinch mit sich selbst und ihrer Umwelt. Jakob, ein von seiner Freundin frisch getrennter Kunststudent, verliebt sich in seine Dozentin, die Professorin Milena Strauss-Kutschera, die seinen Penis in einem fotorealistischen Ölgemälde porträtiert. Seine Mutter, Maria, hingegen, eine Anästhesistin, muss sich in Quarantäne begeben, als es in ihrer Klinikabteilung zu einem Corona-Ausbruch kommt. In dieser beklemmenden Lage lernt sie einen Rabbi kennen, der sich im Tross des israelischen Botschafters befindet, Maria in die Geheimnisse des Kaffeekochens einführt und ihr bei dem Versuch, mit der Geschichte ihrer Vorfahren zurechtzukommen, wertvolle Hilfestellung leistet.
Schon diese Handlungsstränge, wenige von vielen, signalisieren, worunter von Düffels Roman letztlich leidet. In der Absicht, unsere Gegenwart zu analysieren und Wut und Schuld als deren Grundbefindlichkeiten herauszukristallisieren, fährt der Autor viel zu schweres Geschütz auf. Seine Stärke liegt darin, sich konkret auf die Ängste seiner Figuren einzulassen. Wenn er sich auf Richard, seine den nahenden Tod spiegelnden Träume und Fantasien konzentriert, erhält der Text eine beeindruckende Dichte, die freilich durch ein völliges Übermaß an zusätzlichen Episoden und „Schlüsselerlebnissen“verwässert wird.
„Die Menschen“, heißt es an einer Stelle, „halten ihr Leben immer weniger aus“, und es ist diese (nicht sehr originelle) Einsicht, die dazu führt, dass von Düffels Figuren, von Kathi vielleicht abgesehen, keinen Halt mehr zu finden scheinen. Selma, Marias Tochter, versucht verzweifelt den Zusammenhalt ihrer so disparaten Familie wiederherzustellen, während Maria nach und nach begreift, dass die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit zu haben ist: „Nun ist mir endlich klar geworden, dass ich in Wirklichkeit zwei Familien habe, eine sichtbare und eine verschwundene.“
John von Düffels überfrachteter Roman ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Text unter einem Bedeutsamkeitsstreben erstickt. Rückblenden in die Zeit des Nationalsozialismus dürfen da nicht fehlen, ebenso wie die randalierende Dorfjugend, die nicht so übel ist, wie sie sich anfangs gebärdet. Eisbären, die auftauchten, als sich Maria und Holger auf einer Kreuzfahrt kennenlernten, spielen wie die ebenfalls vom Tod bedrohte Katze Morpheus eine symbolisch aufgeladene Nebenrolle, und dass Jakob in die Fänge eines Drogendealers gerät und sich nach Amsterdam aufmachen will, ist ein weiterer wenig tragfähiger Baustein der Romankonstruktion. Wenn sich der Autor zudem an erotisch explizite Stellen wagt, dominiert eine unfreiwillige Komik („In seiner Hose wurde es sehr schnell sehr eng“), auf die man gern verzichtet hätte. Und nicht zuletzt: Warum der Roman im Corona-Frühjahr 2020 spielt, gewinnt letztlich keinerlei Notwendigkeit und wirkt wie ein nach Aktualität heischendes Zugeständnis.
So ist John von Düffels „Die Wütenden und die Schuldigen“in gewisser Weise ein verschenktes Buch. Wie gern wäre man einzelnen Figuren im Detail gefolgt; stattdessen ufert das Romangeschehen schon nach wenigen Kapiteln aus und leidet unter einer aufgeladenen Symbolik, die mitunter zu banalem Räsonieren führt: „Sein Sohn war nicht die Wunde, sondern die Antwort, die einzige und letzte auf die Frage nach der Möglichkeit von Liebe: Mitleid. Grenzenloses Mitleid mit allem, was lebte und zugrunde ging. Es gab nichts anderes in der Gottverlassenheit.“Romane, die zum Deklamieren neigen, sind aber selten gute Romane.