Wie Hitler es schaffte, auf den Mond zu fliehen
Geschichte. Ob nur absurd oder weiterhin gefährlich: In seinem neuen Buch zerlegt der britische Historiker Richard Evans die Verschwörungstheorien im Dritten Reich. Die Zweifel zum Reichstagsbrand zeigen: Immun sind wir dagegen alle nicht.
Laut lachten die Besucher der Berlinale 2012 über „Iron Sky“. Die Science-Fiction-Satire handelt von US-Astronauten, die auf der Rückseite des Mondes eine Nazi-Kolonie entdecken. Schenkelklopfen für Nerds, schiere Narretei? Es gibt braune Esoteriker, die ernsthaft behaupten: NaziEliten, womöglich auch Hitler selbst, seien zu Kriegsende auf eine geheime Militärbasis im antarktischen Neuschwabenland geflüchtet. Von dort aus planten sie, mit der Wunderwaffe der Reichsflugscheiben die Welt zu erobern – oder eben den Mond. Das ist nur ein durchgeknallter Ableger einer Legende, die Pseudowissenschaftler bis heute in dicken Schwarten beweisen wollen: Hitler sei aus dem Bunker per Flugzeug und U-Boot nach Argentinien geflohen. Dort habe er einen friedlichen Lebensabend verbracht, mit Eva Braun, Schäferhund Blondi und einer heimlich gezeugten Tochter. Das glaubte nicht nur der paranoide Stalin. Erst vor vier Jahren durfte es auch eine Serie im „History Channel“insinuieren. Millionen Menschen sahen sie – einige verärgert, manche amüsiert, die meisten aber andächtig.
Die Mär von Hitlers Flucht ist der kuriose Kehraus im neuen Buch des britischen Historikers Richard Evans, einem der renommiertesten Forscher zur jüngeren deutschen Geschichte. In „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“zerlegt er Lügengespinste mit forensischer Verve. Aber ist das noch nötig? Glauben nicht nur noch Antisemiten und Neonazis daran? Verschwörungstheorien sind durch die Verbreitungsmacht des Internets aktueller denn je. Niemand wähne sich immun. Evans findet Denkfallen, in die viele tappen und die uns in falschen Vorstellungswelten gefangen halten.
Wer zündete am 27. Februar 1933 den Reichstag an? Kein Zweifel: Es war ein verwirrter Einzeltäter, der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe, der damit gegen die bürgerliche Ordnung protestieren wollte. Die Nazis aber, schon an der Spitze der Regierung, waren überzeugt, dass die Kommunisten einen Staatsstreich anzetteln wollten. Ein Geschenk der Vorsehung, das ihnen erlaubte, Gegner auszuschalten und Grundrechte außer Kraft zu setzen, als ersten Schritt in die Diktatur. Aber eben weil hier das „Cui Bono?“auf der Hand liegt, hält sich hartnäckig die Theorie der Gegenseite: Die Nazis selbst hätten den Brand gelegt.
Das befriedigt eine Intuition: Der Weltgeist würfelt nicht. Schicksalhafte Ereignisse dürfen kein schnöder Zufall sein, der die Geschichte
ungeplant umlenkt. Denn das würde jene entlasten, die wir als die treibenden Kräfte des Bösen identifiziert haben. Solch irrationale Gefühle machen sich in diesem Fall Autoren zunutze, die seriöse Historiker ins rechte Eck drängen, weil sie die gesicherte Theorie vom Einzeltäter verteidigen.
Die Floskel von der „inneren Wahrheit“
2019 verführte das aufgetauchte „Geständnis“eines SA-Mannes, er sei am angeblichen Komplott beteiligt gewesen, viele Medien dazu, eine Renaissance der Verschwörungstheorie herbeizuschreiben. Historiker halten das Dokument aus guten Gründen für wertlos. Evans resümiert gelassen: Hätte der Reichstag nicht gebrannt, dann hätte Hitler einen anderen Anlass gefunden, nach der totalen Macht zu greifen. In seinem Kapitel über die „Protokolle der Weisen von Zion“erfährt man verblüfft: Sogar Hitler und
Goebbels wussten, dass dieses Pamphlet über die „jüdische Weltverschwörung“eine Fälschung ist. Aber was da vorgeblich auf einem Zionisten-Kongress in Basel 1897 geplant wurde, hatte für sie eine „innere Wahrheit“. Mit solchen Floskeln ohne innere Logik immunisieren sich Anhänger von Verschwörungstheorien. Was andere widerlegen, deuten sie flugs zum Gleichnis um.
Für Hitlers radikalen Rassismus brauchte es kein konkretes Komplott – der unbewusste Drang zur Zerstörung lag für ihn bei allen Juden „im Blut“. Noch weniger Verwendung hatte er für die Dolchstoßlegende. Fielen revoltierende Linke und eine kriegsmüde Zivilgesellschaft den tapferen Soldaten am Ende des Ersten Weltkriegs in den Rücken? Mit dieser Beschuldigung lenkten die Generäle vom eigenen Versagen ab. Den bitteren Streit aufzuwärmen, hätte die Nazis nur Stimmen gekostet. Stattdessen schworen sie die Deutschen auf neue Siege ein. Heute graben nur noch wenige zwangsoriginelle Historiker den „Dolch“aus, um der Legende ein Körnchen Wahrheit abzuargumentieren. Dafür steht bei Revisionisten die gescheiterte „Friedensmission“des Rudolf Heß nach England weiter hoch im Kurs – ein perfider Versuch, die Schuld an Millionen Kriegstoten und sogar am Holocaust den Briten anzulasten. Warum tut man sich diese Unappetitlichkeiten nochmals an?
Es macht Spaß, beim Lesen mitzuraten, wie Evans die Verschwörungstheorien zum Einsturz bringen wird. Zuweilen funktioniert das Entlarven auch ganz leicht. Wie bei der Geschichte einer argentinischen Haushaltshilfe im Dienst von Altnazis. Sie erzählt von einem geheimnisvollen Gast, der nie sein Zimmer verließ und dem sie das Essen vor die Tür stellen musste. Echte deutsche Wurst – zu dumm, dass Hitler Vegetarier war!