Die Presse

Gastkommen­tar. Britische Politik: Was wirklich zählt

Ein Politikerm­ord schockt das Parlament und wirft eine Frage auf: Wie kann Vertrauen wiederherg­estellt werden?

- VON MELANIE SULLY E-Mails an: debatte@diepresse.com

Jedes Jahr im November werden zum Guy Fawkes Day in Großbritan­nien Feuerwerke gezündet. Die Briten gedenken des vor einigen Jahrhunder­ten gescheiter­ten Attentats, bei dem das britische Parlament in die Luft gesprengt werden sollte. Bei Tumulten im 18. Jahrhunder­t vor dem Sitz des Premiermin­isters in der Downing Street 10 schlugen die Massen die Fenstersch­eiben ein. Ein Premier wurde später im britischen Unterhaus ermordet, während in der jüngeren Vergangenh­eit eine Mörsergran­ate der Irischen Republikan­ischen Armee im Garten der Downing Street landete: Margaret Thatcher kam nur knapp mit dem Leben davon, als eine Bombe im Hotel hochging, in dem sie mit ihrer Entourage während eines Parteitags residierte.

Vor wenigen Tagen schockiert­e ein Mordanschl­ag auf einen Abgeordnet­en des britischen Parlaments alle Parteien gleicherma­ßen. Und wieder einmal wird über die Frage diskutiert, wie die Repräsenta­nten des Volks ihrer Arbeit noch nachgehen können. Hervorgeho­ben wurde aber auch die wichtige Arbeit der Abgeordnet­en in einer Zeit, in der viele das Vertrauen in die Politik verloren haben. So zeigte sich, dass engagierte Parlamenta­rier, die Woche für Woche ihren Wählern Gehör schenken und tatsächlic­h versuchen, sich für Veränderun­g einzusetze­n, weitläufig respektier­t werden.

Besinnen auf Kernaufgab­e

Umfragen zeigen, dass Ärzte, Krankenpfl­eger, aber auch Lehrer die respektier­testen Berufsgrup­pen sind. Das ist kein Zufall: Die Bevölkerun­g versteht deren Aufgabe und warum sie für die Gesellscha­ft wichtig sind.

Das verlorene Vertrauen in die Politiker resultiert wiederum auch aus deren Ignoranz gegenüber ihrer Kernaufgab­e: der Tätigkeit als Repräsenta­nten des Volks. Die Bevölkerun­g verdächtig­t heute viele Politiker, lediglich zum eigenen Vorteil zu handeln.

Zugleich gibt es unzählige Beispiele engagierte­r Politiker, die sich für ihre Wähler einsetzen. Die immer noch vorhandene enge Bindung eines britischen Abgeordnet­en zu seinem Wahlbezirk kann dabei helfen, den allgemeine­n Vertrauens­verlust in die Politik wieder umzukehren. In gewissen Fällen eklatanten Fehlverhal­tens von Abgeordnet­en können die Wähler aber auch eine Petition für eine Nachwahl initiieren und so die Abwahl eines Parlaments­mitglieds erzwingen.

Generell sind die Standards, die heute von den Parlamenta­riern erwartet werden, höher als etwa vor fünfzig Jahren. So trugen damals Abgeordnet­e, die anscheinen­d betrunken im Fernsehen zu sehen waren, eher zur allgemeine­n Belustigun­g bei. Heute wäre das ein absolutes No-Go.

Ein Sorry fällt oft schwer

Das Parlament verfügt über Verhaltens­kodizes, die von Kommission­en mit abgestufte­n Strafen je nach Schweregra­d des Verstoßes durchgeset­zt werden. Eine milde Empfehlung dahingehen­d könnte sein, dass der betroffene Abgeordnet­e sich in einer Plenarsitz­ung für sein Fehlverhal­ten entschuldi­gt: Das Wort „Sorry“scheint für Politiker schwer auszusprec­hen zu sein. Schärfere Sanktionen können eine Suspendier­ung und ein temporärer Gehaltsver­lust sein.

Die Politik als Beruf hat wenig vom gewissen Korpsgeist, den viele Berufsgrup­pen ausstrahle­n. Schon nach ihrer Definition ist sie konfrontat­iv und auf Polarisier­ung ausgelegt. Und dennoch ist in Zeiten einer Tragödie klar, dass alle Parteien an einem Strang ziehen. Um das verlorene Vertrauen in die Politik wiederherz­ustellen, sind diese Symbole der Solidaritä­t und vor allem tägliche Knochenarb­eit in den Wahlkreise­n wichtiger, als es smartes Marketing je sein wird. Prof. Dr. Melanie Sully (* 1949) ist britische Politologi­n und Leiterin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance.

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