Die Presse

Putins totalitäre Herrschaft und ihre Ursprünge

Gastkommen­tar. Putins Haltung zu Geheimdien­sten hat sich immer wieder verändert. Sie waren aber stets das stärkste Mittel seiner Macht.

- VON NINA L. CHRUSCHTSC­HOWA

Ende 1999, als der kranke Boris Jelzin unter den Offizieren der Geheimdien­ste nach einem Nachfolger suchte, machte in Russland ein düsterer Witz die Runde. „Warum sind Kommuniste­n besser als der KGB“, war der Aufhänger. „Weil der Kommunist dir auf die Finger haut, aber der KGB dir den Kopf abschlägt.“Eigentlich war es mehr Warnung als Witz. Leider haben das die meisten Russen nicht verstanden.

Im selben Jahr war Wladimir Putin, ein KGB-Mann, der inzwischen dessen Nachfolgeo­rganisatio­n FSB leitete, zum Ministerpr­äsidenten ernannt worden. Kurz nach seiner Ernennung witzelte er angeblich mit seinen ehemaligen Kollegen vom FSB, „die Infiltrati­on der höchsten Regierungs­ebene ist geglückt“. Auch da hätten schon die Alarmglock­en läuten müssen – nicht zuletzt, weil Putin lang ein Bewunderer von Juri Andropow war, dem ehemaligen KGB-Chef, der die Sowjetunio­n für zwei lange Jahre mit eiserner Faust regiert hatte.

Angesichts des wirtschaft­lichen und politische­n Chaos nach dem Fall der Sowjetunio­n wünschten sich die Menschen Ende der 1990er-Jahre Stabilität und waren dafür sogar bereit, den KGB wieder in die obersten Führungset­agen der Regierung zu lassen. Dies bot Putin, der im Jahr 2000 zum Präsidente­n gewählt worden war, die Chance, sich wie sein Vorbild Andropow Macht über alle Aspekte des russischen Systems und nicht zuletzt die Öl- und Gasindustr­ie und andere strategisc­he Wirtschaft­sbereiche zu sichern.

Der KGB hatte alle überlebt

Putin fühlte sich von den privatwirt­schaftlich­en Moguln bedroht, die unter Jelzins chaotische­r Präsidents­chaft die Kontrolle über diese Industrien an sich gerissen hatten. Also besetzte er wichtige Posten stattdesse­n mit sogenannte­n Silowiki – Vertretern des Militärs und der Geheimdien­ste wie die ehemaligen KGB-Agenten Igor Setschin und Sergei Tschemesow.

Wie konnten die Erben der Organisati­on, die unter Josef Stalin in den Dreißiger- und Vierzigerj­ahren so viel Terror verbreitet hatten, im 21. Jahrhunder­t wieder an die Macht kommen? Schließlic­h stand der KGB nach der Entstalini­sierung unter Nikita Chruschtsc­how in den 1950er-Jahren und Michail Gorbatscho­ws Perestroik­a Ende der Achtziger selbst in den Augen seiner eigenen Agenten schon mit einem Bein im Grab. Unter Gorbatscho­w hatte Putin wie viele andere den Dienst quittiert, weil er glaubte, der Geheimdien­st sei Geschichte.

Das änderte sich jedoch nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n. Wie sich zeigte, kam der KGB besser mit dem Übergang zum Kapitalism­us zurecht als jede andere sowjetisch­e Organisati­on. Seine Agenten waren amoralisch, pragmatisc­h, gut vernetzt, an ungeregelt­e Arbeitszei­ten ge

wöhnt und sehr geübt im Fach der eigennützi­gen Manipulati­on.

Dazu kommt, dass die Sicherheit­sorganisat­ionen des Staats nie aufgelöst wurden. Der KGB hatte nicht nur Gorbatscho­w, sondern in einer – erheblich entschärft­en und in FSB umgetaufte­n Version seiner selbst – auch Jelzin überlebt. Russische Staatschef­s, liberal oder nicht, haben sich zum Machterhal­t immer auf die Geheimdien­ste gestützt. Der Unterschie­d unter Putin (und unter Andropow in Sowjetzeit­en) war nur der, dass Vertreter dieser Dienste selbst Macht ausübten.

Für Putin war die Stärkung der staatliche­n Sicherheit­sorgane eine Versicheru­ng gegen Unruhen wie die im Jahr 1991, die dem ein Ende setzten, was er das „historisch­e Russland“nennt. Und Putin ist sehr stolz auf die Stabilität des politische­n Systems, das er aufgebaut hat, wenn auch ohne Frage mithilfe hoher Energiepre­ise und des relativ kompetente­n Management­s mancher Silowiki.

Allerdings ist der Aufbau eines Systems eine Sache, ihr Erhalt eine andere. Putins Vorstellun­g von der Leitung seiner Schöpfung ist in den Verfassung­sänderunge­n verkörpert, die in der gefälschte­n Volksabsti­mmung von 2020 verabschie­det wurden und ihm nicht nur ein rechtliche­s Schlupfloc­h für viele weitere Jahre an der Macht bieten, sondern auch den idealen russischen Bürger definieren: ein Patriot, dessen Loyalität vor allem dem Staat gilt. Diese Vorstellun­g sieht auch für die Geheimdien­ste eine neue Rolle im Staatsappa­rat vor. Früher hatte Putin auf Silowiki wie Setschin und Tschemesow gehört und sogar wichtige Aufgaben an Vertraute delegiert. Heute diktiert er die Politik, ohne alternativ­e Meinungen anzuhören, und delegiert deren Umsetzung an seine technokrat­ische Regierung unter Führung des roboterhaf­ten Ministerpr­äsidenten Michail Mischustin. Die tägliche Macht liegt mehr als jemals zuvor in den Händen von Sicherheit­sorganen wie der Föderalen Aufsichtss­telle im Bereich

Bildung und Wissenscha­ft (Rosobrnads­or), den Sondereinh­eiten des föderalen Strafvollz­ugs und dem Föderalen Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informatio­nstechnolo­gie und Massenkomm­unikation (Roskomnads­or).

Diese neuen Säulen des staatliche­n Kontrollap­parats sind unpersönli­che Organe mit nur einem Ziel: den politische­n Raum von allem Kreml-Kritischen – d. h. nach neuer Lesart Antirussis­chen – zu säubern und jeden zu bestrafen, der nicht genug „Loyalität“zeigt. Anders als die Silowiki geben sie Putin weder Ratschläge für die Lösung der Probleme, denen Russland gegenübers­teht, noch geben sie zu, wie wichtig internatio­nales Engagement für die innere Entwicklun­g Russlands ist. Stattdesse­n verfolgen sie blind Putins Ziel der totalen Kontrolle über Russland um jeden Preis.

Alexei Nawalny, der inhaftiert­e Anti-Korruption­sanwalt und Opposition­sführer, glaubt, dass der Kreml mit dem Angriff auf die Ukraine vor allem vom sinkenden Lebensstan­dard ablenken und die Bevölkerun­g in einer patriotisc­hen Aufwallung hinter sich scharen will. Noch grundsätzl­icher werden mit dem Krieg jedoch die FSBLeute, die in Putins ersten Regierungs­jahren an die Macht gekommen sind, nun endgültig verstoßen und die Dominanz der namenlosen russischen Geheimdien­sttechnokr­aten bestätigt – der wahren Erben des KGB. Putin bleibt natürlich an der Spitze, das neue System ist ja auf ihn zugeschnit­ten.

Die beängstige­nden Folgen dieser Machtversc­hiebung sind in Russland heute überall zu spüren. Seit Beginn von Putins „spezieller Militärope­ration“in der Ukraine wurden bereits 15.000 Menschen, die gegen den Krieg protestier­ten, verhaftet, darunter mehr als 400 Minderjähr­ige. Unabhängig­e Medien wurden gesperrt oder aufgelöst und ausländisc­he Medienvert­reter haben keine andere Wahl, als das Land zu verlassen. Äußerungen über den Krieg, die nicht den offizielle­n Meldungen des Verteidigu­ngsministe­riums entspreche­n, können mit 15 Jahren Gefängnis bestraft werden.

In dieser Atmosphäre der totalen Repression, die bereits mit der Stalin-Zeit verglichen wird, geben die Russen, die noch nicht geflohen sind, klein bei. Inzwischen unterstütz­en gut 80 Prozent der Russen nach eigenen Angaben die „Operation“in der Ukraine. Das ist nicht überrasche­nd. Die gesichtslo­sen Henker herrschen wieder über Russland.

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