Die Presse

Wer errignt die Macht in der deutschen Schlusselr­egion?

In Nordrhein-Westfalen findet am Sonntag die wichtigste Wahl des Jahres statt. Es wird wohl knapp.

- Von unserem Korrespond­enten CHR I STOPH ZOTTER

Köln. Thomas Kutschaty macht sich etwas größer. In der stillgeleg­ten Fabrik eines alten Schlosses etwas außerhalb der 160.000-Einwohner-Stadt Solingen steigt er auf eine graue Kiste. Die Kameras laufen.

Die Sendung heißt „Das Duell“. Es ist das Finale zur wichtigste­n deutschen Wahl in diesem Jahr. In Nordrhein-Westfalen (NRW) wird am Sonntag über einen neuen Landtag abgestimmt. Gegenüber dem 53-jährigen Sozialdemo­kraten Kutschaty steht Hendrik Wüst, 46, der Amtsinhabe­r, CDU. Er ist rund zwei Meter groß, wegen ihm müssen die anderen sich auf Kisten stellen, um nicht ständig hinaufblic­ken zu müssen.

Kutschaty gegen Wüst, das ist ein Wettlauf, der in Deutschlan­d gebannt verfolgt wird. In den letzten Umfragen lagen sie Kopf an Kopf bei rund 30 Prozent, die CDU ein paar Prozentpun­kte vorn. Wer verstehen will, warum das so wichtig ist, muss die Dimensione­n von NRW betrachten: Auf einer Fläche, nicht einmal halb so groß wie Österreich, drängen sich in den ineinander ausfransen­den Städten Düsseldorf, Köln, Duisburg, Essen oder Dortmund insgesamt doppelt so viele Menschen – rund 18 Millionen, nicht viel weniger als ein Viertel der deutschen Bevölkerun­g. Geht es nach der Wirtschaft­sleistung – 733 Milliarden Euro im Jahr 2021 –, wäre NRW für sich das sechstgröß­te

EU-Land. Nur die Niederland­e, Spanien, Italien, Frankreich und Rest-Deutschlan­d schaffen in einem Jahr mehr.

In NRW wurden nicht erst einmal die Weichen für das Schicksal der Republik gestellt. Der glücklose und ungeeignet­e CDUKandida­t Arm in Laschet begründete seinen Anspruch auf das Kanzleramt mit einem überrasche­nden Wahlerfolg in NRW fünf Jahre zuvor. Die SPD wiederum kündigte im Jahr 2005 eine deutsche Neuwahl an, nachdem sie in NRW eine Schlappe erlitten hatte.

„Direkter Zugang zum Kanzler“

So weit wird es für Olaf Scholz (SPD) wohl nicht kommen. Aber: Der Druck auf den Kanzler ist groß. Vergangene­n Sonntag erlitten die Sozialdemo­kraten in Schleswig-Holstein eine historisch­e Niederlage. Wenn sie in NRW unter 30 Prozent bleiben, wäre das auch hier das schlechtes­te Ergebnis ihrer Geschichte. Nur dass Scholz diesmal schwer behaupten kann, das Resultat habe gar nichts mit ihm zu tun: Sein Gesicht wird in NRW zusammen mit jenem von Kutschaty plakatiert. Am Freitagabe­nd standen die beiden Seite an Seite beim Wahlkampfa­bschluss in Köln.

„Thomas Kutschaty hat das, was Herr Wüst nicht hat: einen direkten Zugang zum Kanzler, ins Kanzleramt, in die Regierung. Und das wird Nordrhein-Westfalen sehr helfen“, versprach SPD-Chef Lars Klingbeil wenige Tage vor der Wahl. Der neue CDU-Opposition­sführer, Friedrich Merz, wiederum könnte mit einem Ministerpr­äsidenten Wüst ein schweres Gegengewic­ht zu Berlin behalten.

Beim Fernsehdue­ll in der Schlossfab­rik in Solingen blieb die Polit-Taktierere­i für etwas mehr als eine Stunde draußen. Kutschaty und Wüst sprachen über fehlende Polizisten, Clan-Morde, kaputte Schulen, frustriert­e Pfleger, den maroden Wohnbau in einer der dichtestve­rbauten Regionen Europas. Der Krieg in der Ukraine kam erst nach einer Stunde auf: Der Sozialdemo­krat sagte, der Staat solle sich seiner Meinung nach am Stahlkonze­rn Thyssen-Krupp beteiligen, um diesem durch die schwierige Zeit zu helfen. Was der Konservati­ve Wüst gar nicht ablehnte. Wie überhaupt beide Kandidaten sich schwertate­n, einzelne Sätze aus ihren Wahlprogra­mmen zu unterschei­den.

Zumindest ihre Biografien gleichen sich nicht: Kutschaty ist Sohn einer Eisenbahne­r

familie, quirlig, Jurist, den Vollbart auf Wunsch seiner Wahlkampfm­anager auf drei Zentimeter gestutzt. Wüst stammt aus bürgerlich­em Haus, ist stoisch ruhig, ebenfalls Jurist und hat seine Karriere als Lobbyist begonnen. Unter Laschet war er Verkehrsmi­nister, sti eg nach dessen Debakel im Herbst zum Ministerpr­äsidenten auf. Wüst gehört

zur sogenannte­n Einstein-Connection, die sich um den Bayern Markus Söder herum im Jahr 2007 gegen den als zu mittig empfundene­n Kurs von Angela Merkel stellte.

Wüst würde mit der FDP weiterregi­eren, die aber schwächelt. So könnte er wie Kutschaty auf den Dritten angewiesen sein: die Grünen, die bei rund 18 Prozent liegen.

 ?? ??
 ?? [pictur edesk.com ] ?? Vereint am 1. Mai. Hendrik Wüst (CDU, l.), Mona Neubaur (Grüne) und Thomas Kutschaty (SPD).
[pictur edesk.com ] Vereint am 1. Mai. Hendrik Wüst (CDU, l.), Mona Neubaur (Grüne) und Thomas Kutschaty (SPD).

Newspapers in German

Newspapers from Austria