Wer errignt die Macht in der deutschen Schlusselregion?
In Nordrhein-Westfalen findet am Sonntag die wichtigste Wahl des Jahres statt. Es wird wohl knapp.
Köln. Thomas Kutschaty macht sich etwas größer. In der stillgelegten Fabrik eines alten Schlosses etwas außerhalb der 160.000-Einwohner-Stadt Solingen steigt er auf eine graue Kiste. Die Kameras laufen.
Die Sendung heißt „Das Duell“. Es ist das Finale zur wichtigsten deutschen Wahl in diesem Jahr. In Nordrhein-Westfalen (NRW) wird am Sonntag über einen neuen Landtag abgestimmt. Gegenüber dem 53-jährigen Sozialdemokraten Kutschaty steht Hendrik Wüst, 46, der Amtsinhaber, CDU. Er ist rund zwei Meter groß, wegen ihm müssen die anderen sich auf Kisten stellen, um nicht ständig hinaufblicken zu müssen.
Kutschaty gegen Wüst, das ist ein Wettlauf, der in Deutschland gebannt verfolgt wird. In den letzten Umfragen lagen sie Kopf an Kopf bei rund 30 Prozent, die CDU ein paar Prozentpunkte vorn. Wer verstehen will, warum das so wichtig ist, muss die Dimensionen von NRW betrachten: Auf einer Fläche, nicht einmal halb so groß wie Österreich, drängen sich in den ineinander ausfransenden Städten Düsseldorf, Köln, Duisburg, Essen oder Dortmund insgesamt doppelt so viele Menschen – rund 18 Millionen, nicht viel weniger als ein Viertel der deutschen Bevölkerung. Geht es nach der Wirtschaftsleistung – 733 Milliarden Euro im Jahr 2021 –, wäre NRW für sich das sechstgrößte
EU-Land. Nur die Niederlande, Spanien, Italien, Frankreich und Rest-Deutschland schaffen in einem Jahr mehr.
In NRW wurden nicht erst einmal die Weichen für das Schicksal der Republik gestellt. Der glücklose und ungeeignete CDUKandidat Arm in Laschet begründete seinen Anspruch auf das Kanzleramt mit einem überraschenden Wahlerfolg in NRW fünf Jahre zuvor. Die SPD wiederum kündigte im Jahr 2005 eine deutsche Neuwahl an, nachdem sie in NRW eine Schlappe erlitten hatte.
„Direkter Zugang zum Kanzler“
So weit wird es für Olaf Scholz (SPD) wohl nicht kommen. Aber: Der Druck auf den Kanzler ist groß. Vergangenen Sonntag erlitten die Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein eine historische Niederlage. Wenn sie in NRW unter 30 Prozent bleiben, wäre das auch hier das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Nur dass Scholz diesmal schwer behaupten kann, das Resultat habe gar nichts mit ihm zu tun: Sein Gesicht wird in NRW zusammen mit jenem von Kutschaty plakatiert. Am Freitagabend standen die beiden Seite an Seite beim Wahlkampfabschluss in Köln.
„Thomas Kutschaty hat das, was Herr Wüst nicht hat: einen direkten Zugang zum Kanzler, ins Kanzleramt, in die Regierung. Und das wird Nordrhein-Westfalen sehr helfen“, versprach SPD-Chef Lars Klingbeil wenige Tage vor der Wahl. Der neue CDU-Oppositionsführer, Friedrich Merz, wiederum könnte mit einem Ministerpräsidenten Wüst ein schweres Gegengewicht zu Berlin behalten.
Beim Fernsehduell in der Schlossfabrik in Solingen blieb die Polit-Taktiererei für etwas mehr als eine Stunde draußen. Kutschaty und Wüst sprachen über fehlende Polizisten, Clan-Morde, kaputte Schulen, frustrierte Pfleger, den maroden Wohnbau in einer der dichtestverbauten Regionen Europas. Der Krieg in der Ukraine kam erst nach einer Stunde auf: Der Sozialdemokrat sagte, der Staat solle sich seiner Meinung nach am Stahlkonzern Thyssen-Krupp beteiligen, um diesem durch die schwierige Zeit zu helfen. Was der Konservative Wüst gar nicht ablehnte. Wie überhaupt beide Kandidaten sich schwertaten, einzelne Sätze aus ihren Wahlprogrammen zu unterscheiden.
Zumindest ihre Biografien gleichen sich nicht: Kutschaty ist Sohn einer Eisenbahner
familie, quirlig, Jurist, den Vollbart auf Wunsch seiner Wahlkampfmanager auf drei Zentimeter gestutzt. Wüst stammt aus bürgerlichem Haus, ist stoisch ruhig, ebenfalls Jurist und hat seine Karriere als Lobbyist begonnen. Unter Laschet war er Verkehrsminister, sti eg nach dessen Debakel im Herbst zum Ministerpräsidenten auf. Wüst gehört
zur sogenannten Einstein-Connection, die sich um den Bayern Markus Söder herum im Jahr 2007 gegen den als zu mittig empfundenen Kurs von Angela Merkel stellte.
Wüst würde mit der FDP weiterregieren, die aber schwächelt. So könnte er wie Kutschaty auf den Dritten angewiesen sein: die Grünen, die bei rund 18 Prozent liegen.