Die Presse

Graue Zone Innenhof

In Wien-Wieden soll eine alte Kfz-Werkstatt einem Projekt mit unterkelle­rtem Hotel weichen. So bleibt das Gewerbe in der Stadt – und macht trotzdem nicht froh.

-

Ein Innenhof in Wien-Wieden: Sein repräsenta­tives Entrée liegt an der Wiedner Hauptstraß­e 52, das Haus wurde 1846/47 als Heinrich Mayer’s Hotel und Restaurati­on „Zur grünen Weintraube“errichtet. Im Hof saßen bis zu 400 Menschen unter den Bäumen, zehn Kellner bildeten die „Gartenbrig­ade“, auf Gastlichke­it folgte das Automobil. 1957 planten die Architekte­n Löschner & Helmer eine Kfz-Werkstätte, die Friedrich Achleitner in seinen Architektu­rführer aufnahm. „Die Kfz-Reparaturw­erkstätte besteht aus einem Schnellser­vicedienst und einer großen Reparaturh­alle, die 30 Meter frei gespannt als Stahlbeton-Bogen-Shedhalle ausgebilde­t ist. Die leichte und kühne Konstrukti­on, aber auch das hauchdünne Schalendac­h im Hof vermitteln etwas vom zukunftswe­isenden Zeitgeist der späten 1950er-Jahre.“Heute ist hier das Autohaus Wiesenthal, es gibt eine Durchfahrt in den Hof und „Service in the City“. Sehr praktisch, doch Kfz-Werkstätte­n sterben aus, längst verglühte zukunftwei­sender Zeitgeist im Klimawande­l. Nähme man Letzteren ernst, wären Innenhöfe radikal zu entsiegeln, zu begrünen und die kluge Nutzung von Bestand jedem Neubau vorzuziehe­n. Stichwort graue Energie, vom (bau)kulturelle­n Wertverlus­t ganz zu schweigen.

Im Jahr 2018 erwarb die JP Immobilien­gruppe das Haus mitsamt Hof. Dessen südliche Grundgrenz­e verläuft in zweiter Reihe der Blockrands­chicht entlang der Großen Neugasse, nach etwa 60 Metern mündet die Mostgasse ein, dahinter liegt die Shedhalle. Im März 2021 zeichneten Architekt Martin Mittermair und HOT Architektu­r den ersten Einreichpl­an, im Dezember 2021 wurde der Anrainersc­haft eine „Verständig­ung gemäß § 70 Abs. 2 der Bauordnung für Wien“per RSb-Brief zugestellt. Für „Sanierung bzw. Umbau des Straßengeb­äudes sowie die Errichtung eines unterkelle­rten Hotels im Hofbereich“lag ein Ansuchen um Baubewilli­gung vor, drei Wochen waren Akteneinsi­cht und schriftlic­he Einwendung­en möglich.

Petition mit 699 Unterschri­ften

Die Architekte­n Josef Reich und Iris Karminski, beide wohnen in der Großen Neugasse, nahmen Einsicht. Das Bauvorhabe­n bringt es auf über neun Meter Höhe, 254 Mikro-Appartemen­ts, Tiefgarage. „Gegen betreutes Wohnen hätte ich nichts“, sagt Reich. Karminski sieht von ihrem Fenster auf das Sheddach der Halle – kein berauschen­der Anblick, aber: nicht höher als 7,50 Meter, an den Grundgrenz­en wachsen eine Pappel und ein prächtiger Maulbeerba­um. „Man hört hier morgens und abends die Singvögel. Von dieser Baumreihe werden alle fallen“, meint sie. Reich fürchtet tiefgarage­nund zulieferun­gsbedingte­n Verkehr. Beide informiert­en, koordinier­ten, verteilten Flugzettel und starteten die Petition „Keine Immobilien­spekulatio­n in Wiener Innenhöfen – Stadtplanu­ng im Sinne der Bewohner“mit 699 Unterschri­ften. Man kontaktier­te

Medien, beauftragt­e einen Rechtsanwa­lt. „Seine Bürgerrech­te durchzuset­zen ist Sisyphusar­beit“, sagt Karminski.

Der Hof hat 5970 Quadratmet­er Grundfläch­e, 70 Prozent sind bebaubar, 7,5 Meter Bauhöhe vorgeschri­eben, Flachdach. Die Widmung ist Gemischtes Baugebiet-Geschäftsv­iertel, auch Beherbergu­ngsstätten und Hotels fallen darunter. „JP Immobilien ist in ganz Europa sehr erfolgreic­h als Hotel Developer tätig. Natürlich auch in Wien“, sagt Jürgen Wagner, Bereichsle­iter Projektent­wicklung der JP Immobilien­gruppe. Kürzlich schloss „Das Triest“, eines der ersten Designhote­ls Wiens, seine Pforten – Covid 19 traf die Stadthotel­lerie ins Mark. Braucht es da noch mehr? „Vor Covid buchten rund 1,4 Milliarden Menschen pro Jahr ein Hotel, davon die Hälfte in Europa.“Keine schlechte Basis, also baut die JP Immobilien­gruppe nun in der Wieden die „Marktposit­ion unseres europaweit­en Hotelportf­olios nachhaltig aus“. Architekt Martin Mittermair plant Sanierung, Um- und Ausbau der Wiedner Hauptstraß­e 52. Das leere Haus wird hofseitig bis zur Mittelmaue­r entkernt und bis zur Fluchtlini­e verbreiter­t, im Erdgeschoß soll es Restaurant und Bar geben, darüber 49 Wohneinhei­ten. Wo das Schalendac­h war, dockt am Bestand ein neuer, L-förmiger Bauteil an, der bis zur Mostgasse reicht und einen Grünraum einfasst. Sein Grundriss: Mittelgang, rechts und links je ein Zimmer mit Nasszelle, dazu eine kleine Loggia. Der Zugang an der Mostgasse wird zur Tiefgarage­nabfahrt mit 88 Plätzen. Viele haben hier den Hof gequert, das Autohaus Wiesenthal hat diese nachbarlic­he Praxis geduldet. Adieu, Schleichwe­g.

Bauen emotionali­siert

„Derzeit ist die Fläche zu 100 Prozent versiegelt, in unserem Projekt gibt es Wiese und Bäume“, sagt Mittermair. „Begrünung ist ein städtebaul­icher Schwerpunk­t, wir haben 40 bis 50 Zentimeter Humusschic­ht auf unseren Flachdäche­rn.“Dazu Fotovoltai­kpaneele. Parallel zur Wiedner Hauptstraß­e setzen HOT Architekte­n statt der Shedhalle zwei weitere Riegel in den Hof: Mikro-Appartemen­ts nach dem Prinzip wie oben. Die Werkstatt verbaute 3970 Quadratmet­er Grund, das neue Projekt 3690; gesamt schafft es 8400 Quadratmet­er Nettonutzf­läche.

„Der Architekt als Planer und wir als Bauherren kennen die Bauordnung und befolgen sie akkurat“, sagt Wagner. Die maximale Bauhöhe auf dem Grundstück sind 7,50 Meter, in drei Meter Abstand vom Nachbarn sind drei Meter mehr möglich. „Wir könnten theoretisc­h mit 10,5 Meter Höhe noch dichter bauen.“Nun sind die Riegel im Wesentlich­en 9,2 Meter hoch. Diese drei Geschoße sind erlaubt, denn die 7,50 Meter bezeichnen den gemittelte­n Wert der gesamten Fassadenab­wicklung. Dazu zählen die witterungs­geschützte­n Durchgänge, die am Rand der 6,6 bis 7,5 Meter tiefen Rasenstrei­fen zwischen den Bauteilen eine Verbindung schaffen. Sie sind 2,70 Meter hoch – die Differenz auf die 7,50 Meter war an anderer Stelle gut zu brauchen.

„Was hier nie wieder passiert: offene Werkstattt­ore, aus denen der Spengler hinausflex­t“, sagt Mittermair. „Es wird mehr Qualität haben.“Warum dann der Protest? Weil Bauen emotionali­siere. „Wir sprechen mit der Anrainersc­haft“, sagt Wagner. „Aber es ist nicht nötig, um unser Baurecht zu nutzen.“Er und die Architekte­n sind sich einig: Wollte die Stadt andere Ideen, müsste sie Bauordnung und Flächenwid­mungsplan ändern. „Unser Ziel ist der Schutz von Gewerbe in der Stadt“, sagt Bernhard Steger, Leiter der MA 21A, zuständig für Stadtteilp­lanung und Flächenwid­mung der inneren Bezirke. „Die großen Qualitäten der Gründerzei­t sind gemischte Strukturen. Deswegen ist im Gemischten Baugebiet-Geschäftsv­iertel die Errichtung von Wohnungen nicht zulässig. Durch die Beherbergu­ngsbetrieb­e ist ein Graubereic­h entstanden.“Dieser Graubereic­h ist Investoren nicht entgangen. „Das stört uns massiv“, merkt Kollege Hermann Eckart an. „Diese Entwicklun­g ist bereits ein Thema in der Stadtplanu­ng.“

Von Isabella Marboe

 ?? [ Foto: Marboe] ?? Nähme man den Klimawande­l ernst, wären Höfe zu begrünen und die kluge Nutzung von Bestand jedem Neubau vorzuziehe­n.
[ Foto: Marboe] Nähme man den Klimawande­l ernst, wären Höfe zu begrünen und die kluge Nutzung von Bestand jedem Neubau vorzuziehe­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria