Die bizarre Machtdemonstration des Kreml-Chefs
Annexionsfeiern. Putin wettert in seiner Rede gegen die USA. Er wirft dem Westen vor, Russland zerstören zu wollen.
Moskau. Am Ende legen sie ihre Hände einzeln aufeinander, Russlands Präsident, Wladimir Putin, und die sogenannten Chefs der sogenannten Republiken Donezk und Luhansk sowie der von Russland okkupierten ukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja (das Russland Saporoschje nennt). Sie halten sich aneinander fest und schreien: „Russland, Russland!“Als wäre es ein Fußballspiel, bei dem sie ihre Mannschaft antreiben. All die Menschen vor ihnen, Russlands gesamte politische und religiöse Elite, springen von ihren Stühlen im blank geputzten Georgssaal des Kreml und stimmen mit ein: „Russland, Russland!“
Putins Rede vor der Unterzeichnung seines Anschlusses von vier ukrainischen Gebieten an Russland soll feierlich wirken. Letztlich aber bleibt sie eine lahme psychologische Attacke voller Hass auf die USA. Sie zeigt, dass der Plan des russischen Präsidenten, die Ukraine zu unterwerfen, gescheitert ist. Und legt dar, dass Putin, der nie nachgibt, sich und vielen anderen im Saal und außerhalb diese Niederlage nicht eingestehen wird. Deshalb braucht er Hunderte von Abgeordneten, Ministern, Gouverneuren, Muftis und Priestern im Kreml, die ihm applaudieren.
Ein Volkskrieg
Ihnen allen signalisiert er: Ihr seid mit in diesem Boot. Deshalb braucht er die Tausenden von herbeigekarrten Menschen draußen auf dem Roten Platz, die mit ihren russischen Fähnchen in die Fernsehkameras jubeln. „Endlich sind unsere Leute zu Hause“, sagt da so mancher und kann doch kaum erklären, wer da eigentlich in welchem Zuhause sei. „Die Wahrheit ist unsere. Russland ist unser“, ruft Putin in den KremlSaal hinein. Standing Ovations.
Während auf Moskaus Bühnen Putins Anschluss inszeniert wird, gibt es auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und letztlich in jeder russischen Familie kaum etwas zu feiern. Die Mobilisierung, die Putin euphemistisch „Teilmobilisierung“nennt, hat Moskaus „militärische Spezialoperation“zu einem wohl lang anhaltenden Volkskrieg gemacht. Den Menschen in Russland ist plötzlich so bange wie nie zuvor in den vergangenen Monaten. Die einen schicken ihre Söhne mit ihrem letzten Geld ins Ausland, die anderen voller Fatalismus in den Tod. Und Putin sagt in Anspielung an den angeblich dekadenten Westen: „Wollen wir statt Mama und Papa Elternteil 1 und Elternteil 2 sagen? Wollen wir statt ,Frauen‘ und ,Männer‘ irgendein drittes Geschlecht anerkennen?“
Wie das mit seinem Landraub zusammenhängt, erklärt er nicht. Ein bisschen Homophobie hier, viel Antiamerikanismus dort. Dem Westen bescheinigt er Totalitarismus, Despotismus, „politischen Rassismus“: „Sie brauchen Russland nicht, sie wollen es in Stücke zerbrochen sehen. Wir aber brauchen Russland“, ruft er. „Wir befinden uns in einem Krieg um die Zukunft unseres Volkes. Die Welt wird nie mehr so sein, wie vor dieser Spezialoperation.“
Status quo in der Ost- und Südukraine
Die Eile des Kreml zur Annexion lässt sich mit den Rückschlägen an der ukrainischen Front erklären. Es soll eine Art Status quo geschaffen werden. Moskau beansprucht damit eine Westgrenze, die es nicht kontrolliert. Keine der vier Regionen ist völlig in russischer Hand, völkerrechtlich anerkannt sind die sogenannten Referenden von Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja, die Putin als „freie, von der UN geschützte Willensbekundung von Millionen von Menschen“bezeichnet, ohnehin nicht.
Das hindert ihn nicht daran, die Ukraine und den Westen dazu aufzurufen, die Kampfhandlungen „sofort einzustellen und den Krieg zu beenden, den Kiew 2014 angefangen hat“. Er wolle zum Dialog zurück, sonst könne es zu einem „Kollaps“kommen, sagt er und droht an, die annektierten – er nennt sie „befreite“– Gebiete „mit allen Mitteln zu verteidigen“. Von atomaren Waffen spricht er dieses Mal explizit nicht.
Die Wahrheit ist unsere. Russland ist unser.
Wladimir Putin, russischer Präsident
Spiegelverkehrte Welt in Moskau
Putin zeigt mit seiner Rede wieder einmal, welch spiegelverkehrte Welt er für sich und viele andere geschaffen hat und wie gut er sich darin eingerichtet hat. Es ist stets der Westen, dem er Gewalt vorwirft, Lügen, Zerstörungswut. Alle Länder seien US-Vasallen, manche freiwillig, andere gezwungenermaßen. Russland werde seinen „Kampf für ein großes historisches Russland führen“und sich „nie auseinanderdividieren lassen“.
Letztlich aber führt Putin – in die Ecke getrieben und damit immer gefährlicher – seinen Kampf um den eigenen Machterhalt. Andere Mittel als immer größere Gewalt, als Angst und Schrecken, die Respekt ersetzen sollen, hat er nicht mehr. Viele in Russland bejubeln ihn dafür – manche freiwillig, andere gezwungenermaßen.