„Kämpft, um nicht zu sterben“
Militär. Ukraines Präsident Selenskij ruft die Gegner zum Aufstand und zur Flucht auf. Briefe und Telefonate russischer Soldaten belegen die miserable Moral an der Front.
Wien/Kiew. Wolodymyr Selenskij ist ein Großmeister der psychologischen Kriegsführung. In einer Videobotschaft stachelte der ukrainische Präsident zur Revolte gegen Wladimir Putin auf, ohne dessen Namen zu nennen: „Um das zu beenden, muss man den einen stoppen, der den Krieg mehr will als das Leben.“Der Kreml-Chef „spucke“auf Menschenleben.
In Russisch sagte Selenskij eindringlich: „Kämpft, um nicht zu sterben!“Oder: „Lauft weg!“Laut seinen Angaben sollen bereits 58.000 russische Soldaten ihr Leben in dem Krieg gelassen haben – eine Opferzahl, die sich kaum verifizieren lässt und westliche Schätzungen deutlich übersteigt. Der Staatschef haute jedenfalls kräftig auf die Propagandapauke: Die Soldaten sollten sich die Namen tätowieren lassen, damit sie als Leichen später identifiziert werden könnten.
Insbesondere rief Selenskij die Bewohner im sibirischen Bujatien und in Dagestan im Kaukasus zum Widerstand auf. An den Rändern Russlands stößt die Rekrutierung für den Ukraine-Krieg auf zunehmenden Unmut, zumal ethnische Minderheiten überproportional von der Mobilisierung betroffen sind. Der russische Präsident räumte dabei erstmals offen Fehler ein, die korrigiert werden müssten – ein Eingeständnis, dass längst nicht „alles nach Plan“läuft, wie der Kreml stets weismachen will.
„Putin ist ein Narr“
Von der miserablen Moral unter den russischen Soldaten berichten westliche Geheimdienste seit Kriegsbeginn vor sieben Monaten. Zuletzt hat die Regierung in Kiew US-Medien dramatische Beweise zugespielt. In Briefen, die russische Soldaten bei der überstürzten Flucht aus Isjum vor Wochen zurückgelassen haben und aus denen die „Washington Post“zitiert hat, beklagen sie sich über „physische und moralische Erschöpfung“und dass sie keinen Fronturlaub erhalten würden. Andere schreiben, sie würden am liebsten Fahnenflucht begehen. Zugleich fanden sich in Isjum auch Briefe russischer Schulkinder zur moralischen Aufrichtung der Truppe.
Die „New York Times“veröffentlichte Auszüge aus abgehörten Telefonaten russischer Eliteeinheiten in die Heimat, die aus der Belagerung Kiews im März datieren. Sie bezeugen das brutale Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung wie die eigene Desillusionierung. Ein Aleksandr sagt: „Putin ist ein Narr. Er will Kiew einnehmen, aber wir haben keine Chance.“Andrej berichtet: „Unser halbes Regiment ist draufgegangen.“Und Sergej fürchtet: „Wir werden diesen Krieg verlieren. Mutter, dieser Krieg ist die dümmste Entscheidung, die unsere Regierung je getroffen hat.“