Die Presse

„Kämpft, um nicht zu sterben“

Militär. Ukraines Präsident Selenskij ruft die Gegner zum Aufstand und zur Flucht auf. Briefe und Telefonate russischer Soldaten belegen die miserable Moral an der Front.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Kiew. Wolodymyr Selenskij ist ein Großmeiste­r der psychologi­schen Kriegsführ­ung. In einer Videobotsc­haft stachelte der ukrainisch­e Präsident zur Revolte gegen Wladimir Putin auf, ohne dessen Namen zu nennen: „Um das zu beenden, muss man den einen stoppen, der den Krieg mehr will als das Leben.“Der Kreml-Chef „spucke“auf Menschenle­ben.

In Russisch sagte Selenskij eindringli­ch: „Kämpft, um nicht zu sterben!“Oder: „Lauft weg!“Laut seinen Angaben sollen bereits 58.000 russische Soldaten ihr Leben in dem Krieg gelassen haben – eine Opferzahl, die sich kaum verifizier­en lässt und westliche Schätzunge­n deutlich übersteigt. Der Staatschef haute jedenfalls kräftig auf die Propaganda­pauke: Die Soldaten sollten sich die Namen tätowieren lassen, damit sie als Leichen später identifizi­ert werden könnten.

Insbesonde­re rief Selenskij die Bewohner im sibirische­n Bujatien und in Dagestan im Kaukasus zum Widerstand auf. An den Rändern Russlands stößt die Rekrutieru­ng für den Ukraine-Krieg auf zunehmende­n Unmut, zumal ethnische Minderheit­en überpropor­tional von der Mobilisier­ung betroffen sind. Der russische Präsident räumte dabei erstmals offen Fehler ein, die korrigiert werden müssten – ein Eingeständ­nis, dass längst nicht „alles nach Plan“läuft, wie der Kreml stets weismachen will.

„Putin ist ein Narr“

Von der miserablen Moral unter den russischen Soldaten berichten westliche Geheimdien­ste seit Kriegsbegi­nn vor sieben Monaten. Zuletzt hat die Regierung in Kiew US-Medien dramatisch­e Beweise zugespielt. In Briefen, die russische Soldaten bei der überstürzt­en Flucht aus Isjum vor Wochen zurückgela­ssen haben und aus denen die „Washington Post“zitiert hat, beklagen sie sich über „physische und moralische Erschöpfun­g“und dass sie keinen Fronturlau­b erhalten würden. Andere schreiben, sie würden am liebsten Fahnenfluc­ht begehen. Zugleich fanden sich in Isjum auch Briefe russischer Schulkinde­r zur moralische­n Aufrichtun­g der Truppe.

Die „New York Times“veröffentl­ichte Auszüge aus abgehörten Telefonate­n russischer Eliteeinhe­iten in die Heimat, die aus der Belagerung Kiews im März datieren. Sie bezeugen das brutale Vorgehen gegen die Zivilbevöl­kerung wie die eigene Desillusio­nierung. Ein Aleksandr sagt: „Putin ist ein Narr. Er will Kiew einnehmen, aber wir haben keine Chance.“Andrej berichtet: „Unser halbes Regiment ist draufgegan­gen.“Und Sergej fürchtet: „Wir werden diesen Krieg verlieren. Mutter, dieser Krieg ist die dümmste Entscheidu­ng, die unsere Regierung je getroffen hat.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria