„Niemand ist begeistert, alle haben Angst“
Südostukraine. Während der Kreml die Angliederung der vier ukrainischen Gebiete propagandistisch aufbläst, sind die unmittelbaren Folgen für die Bewohner diffus. Das liegt neben der Hektik des Projekts vor allem an den Kämpfen.
Donezk/Moskau/Wien. Das Gebiet Cherson sei Kornkammer, das Gebiet Saporischschja aufgrund seiner Kraftwerke „Spitzenreiter der ukrainischen Energetik“, die Donezker und Luhansker „Volksrepubliken“glänzten in den Bereichen Maschinenbau, Metallurgie und Kohleförderung. In Kremltreuen Medien kursieren Propagandavideos, die die wirtschaftlichen Vorteile der russischen Landnahme anpreisen. Mit Einschaltungen wie diesen wurde das russische Publikum in den vergangenen Tagen auf die vom Kreml hastig organisierten Scheinreferenden und die nachfolgende Annexion ukrainischen Territoriums eingestimmt. Während die Ukraine 15 Prozent ihrer Staatsfläche einbüße, gewinne Russland durch den gemeinhin als „Beitritt“bezeichneten Anschluss mehrere Millionen Einwohner und boomende Branchen, so der Tenor.
Während der Kreml seine militärische Aggression als Erfolgsgeschichte darstellt, ist unklar, was die Annexion genau für die Bewohner vor Ort bedeutet. Russische Pässe wurden bisher schon ausgegeben, der Rubel war Zahlungsmittel. Berichtet wird, dass die Grenzkontrollen zwischen Russland und dem annektierten Gebiet abgeschafft würden. Doch viel ist über das Kleingedruckte der Annexion – über den Verwaltungsakt nach dem Gewaltakt – nicht bekannt.
Abwärtstrend seit 2014
Dabei ist die Lage in den betroffenen Gebieten wenig euphorisch. „Alle wissen, dass die Abstimmung eine Farce war – sogar die, die für Russland sind.“So kommentiert eine Bewohnerin von Donezk im Gespräch mit der „Presse“die unglaubwürdigen Resultate der Scheinreferenden. Die Organisatoren hatten ja behauptet, dass die Zustimmung zum Anschluss bis zu 99 Prozent betragen habe. Im russischen Fernsehen würden nun jubelnde Menschen gezeigt, doch die Stimmung in der Donbass-Metropole sei eine andere: „Niemand ist begeistert. Alle haben Angst.“Die Straßen seien menschenleer, man sitze zu Hause und warte ab.
Der russische Angriffskrieg hat entlang der Front im Südosten des
Landes ganze Ortschaften unbewohnbar gemacht und zu einer bis heute andauernden Fluchtbewegung der Zivilbevölkerung geführt. (Im Donbass setzten Verfall und Abwanderung freilich schon mit dem von Moskau unterstützten Separatisten-Aufstand von 2014 ein.)
Vor allem sozial mobilere Bevölkerungsgruppen fliehen; zurück bleiben tendenziell Alte und Kranke, Menschen ohne finanzielle Ressourcen – und solche, die ihre Zukunft in der „russischen Welt“sehen. In der früheren Millionenstadt Donezk dürften noch 300.000 Einwohner übrig sein. Im großflächig zerstörten Mariupol harrt geschätzt ein Viertel seiner früher 400.000 Bürger aus. Die Annexion bietet keine Antwort auf den dramatischen Bevölkerungsschwund und seine sozioökonomischen Folgen.
Sicher ist: Die vier annektierten Gebiete werden stark von russischen Subventionen abhängig sein. Moskau stellte zunächst 3,3 Milliarden Rubel – umgerechnet knapp 60 Millionen Euro – aus dem Budget in Aussicht. Bedürftige Bevölkerungsgruppen hoffen auf mehr Geld unter offizieller russischer Herrschaft. „Die Pensionisten träumen von einer ,russischen‘ Pension“, berichtet die Donezker Gesprächspartnerin. Pensionen in Russland sind vielfach höher als in der Ukraine. Ähnlich große Erwartungen an den russischen Versorger-Staat waren vor acht Jahren vor dem Anschluss auf der Krim zu hören. Freilich ging die „Heimholung“der Krim mit einem Anstieg der Lebenshaltungskosten einher.
Ökonomische Grauzone
Vor allem in den seit 2014 abtrünnigen Gebieten von Donezk und Luhansk ist die ökonomische Aktivität stark gesunken. Dieses Schicksal droht nun auch Cherson und Saporischschja. Frühere Großbetriebe mussten ihre Produktion aufgrund von Liefer- und Absatzproblemen zurückfahren. Der Zugang zu internationalen Märkten ist verschlossen. Ob die Annexion ihre Marktchancen verbessert oder sie nur von einer Grauzone in die nächste führt, ist ungewiss. Es gibt die Sorge, dass lokale Produkte aufgrund mangelnder Konkurrenzfähigkeit auf dem russischen Markt nicht bestehen können.
Auch über das Schicksal der derzeitigen Lokalherren von Moskaus Gnaden wird gerätselt. Wie genau die vier Gebiete in administrativer Hinsicht eingegliedert werden sollen, ist noch nicht bekannt. Gerüchte kursieren über einen großen „Föderalen Bezirk Krim“, der die ukrainischen Territorien samt Krim umfassen und an dessen Spitze ein „echter“Russe stehen soll. Der Name von Dmitrij Rogosin, dem nationalistisch orientierten ExRoskosmos-Chef, taucht in diesem Kontext auf. Der Donezker Separatistenchef Denis Puschilin und sein Luhansker Kamerad, Leonid Pasetschnik, wären damit entmachtet, ihre „Volksrepubliken“Geschichte.
Nur russische Teilkontrolle
Allerdings: Ob Putins großrussische Pläne wirklich in die Realität umgesetzt werden können, hängt vorrangig von den Entwicklungen im Gefechtsfeld ab. Moskau beansprucht ja grundsätzlich die Macht über die Gesamtheit der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Derzeit kontrolliert es aber lediglich Teile dieser Gebiete – und aufgrund der ukrainischen Erfolge im Feld ist die Tendenz weiter fallend. Die bürokratischen Schritte nach der Annexion könnten nur umgesetzt werden, wenn sich dank der russischen Teilmobilisierung die Lage an der Front stabilisieren sollte.
Was Putins Plan den lokalen Bewohnern nicht bringt, ist der ersehnte Frieden: „Niemand kann garantieren, dass der Beschuss aufhört“, so die Bürgerin aus Donezk.