Fluchtpunkt Türkei: Wo Russen vor der Einberufung sicher sind
Russische Flüchtlinge. Um der Teilmobilmachung zu entkommen, zieht es wehrpflichtige Männer und ihre Familien ins Ausland. Besonders begehrt sind Istanbul und Antalya, wo sie ohne Visum einreisen können.
Nichts deutet darauf hin, dass Jewgeni und seine Familie gerade alle Brücken zu ihrem bisherigen Leben abgebrochen haben. Der 37-jährige Russe – rotes T-Shirt, Baseball-Kappe, leichter Rucksack und Sonnenbrille – schlendert durch die sonnige Istanbuler Innenstadt wie ein Tourist, die beiden kleinen Kinder drücken die Nasen ans Schaufenster einer Konditorei. Auch zwei Schwager Jewgenis und ihre Familien sind dabei. Alle tragen Urlaubskleidung und genießen die Wärme des Spätsommertags. Normalerweise wären sie jetzt nicht hier, sondern zu Hause in Russland. Doch dort wartet auf die Männer die Einberufung zur Armee und der Einsatz im Ukraine-Krieg.
„Ich wäre ganz sicher dran“, sagt Jewgeni über die Teilmobilmachung, die vorige Woche von Präsident Wladimir Putin verkündet wurde: Er ist Reserveoffizier der russischen Armee und Spezialist für atomare, biologische und chemische Waffen. Auch seine beiden Schwager, 25 und 32 Jahre alt, müssten mit einer Einberufung rechnen. Dem wollen Jewgeni und seine Verwandten entkommen, – und sie sind nicht die Einzigen. Tausende Russen sind seit vergangener Woche in der Türkei eingetroffen, wo sie ohne Visum einreisen können. Flüge aus Moskau nach Istanbul oder in Urlaubsorte wie Antalya sind auf Tage hinaus ausgebucht oder nur noch zu horrenden Preisen zu haben – dabei hat die türkische Fluggesellschaft Turkish Airlines täglich bis zu fünf Direktflüge von Moskau nach Istanbul und mehr als zehn Verbindungen von Moskau nach Antalya im Programm.
Auch andere sichere Länder für Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, erleben einen Ansturm. An der georgischen Grenze stauen sich russische Autos, die billigsten Flugtickets von Moskau nach Dubai kosten ein Vermögen. Auch Flüge in zentralasiatische Staaten wie Kasachstan oder Usbekistan und nach Armenien, Serbien oder Montenegro sind ausgebucht. Kriegsdienstverweigerer im russischen Osten bringen sich in der Mongolei in Sicherheit.
Insgesamt dürften seit Putins Mobilmachungs-Dekret mehr als 200.000 Russen ihr Land verlassen haben. Allein Kasachstan meldet mehr als 100.000 Einreisen, Georgien berichtet von mehr als 50.000, Finnland von über 40.000.
Das wird der dritte Weltkrieg. Wie lang dauerte der letzte? Sechs Jahre. So lang werden wir bleiben.
Die Türkei steht auf der Liste der Fluchtpunkte mit an der Spitze, weil es wegen der vier Millionen russischen Urlauber im Jahr besonders viele Flugverbindungen gibt. Am Flughafen von Istanbul treffen täglich Gruppen von jungen Männern mit ihren Habseligkeiten aus Russland ein – froh, der Einberufung entkommen zu sein, bevor Putin die Grenzen schließt, aber ohne Plan, wie es weitergehen soll. „Es sind unglaublich viele, die jetzt Russland verlassen“, sagt Jewgeni.
Schon nach Kriegsausbruch im Februar setzten sich Zehntausende Russen und Ukrainer in die Türkei ab. Türkische Medien
berichteten damals, allein in den ersten drei Kriegswochen seien 14.000 Russen – Kriegsgegner, Journalisten, Akademiker und Geschäftsleute – und fast 50.000 Ukrainer in der Türkei angekommen. Ukrainer kommen jetzt kaum noch – dafür umso mehr Russen. Bürger aus den beiden Ländern können ohne Visum drei Monate lang als Touristen in der Türkei bleiben; wegen des Krieges können sie außerdem eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung beantragen, ohne das nötige Geld dafür nachweisen zu müssen.
Auch Mikhail ist mit Frau und Kind aus Russland geflohen und in Istanbul
Jewgeni (Reserveoffizier)
gelandet. „Wir sind zum ersten Mal im Ausland“, sagt er via WhatsApp. Er hat nicht viel Geld und will so schnell wie möglich weiter nach Deutschland, wo er Verwandte und Freunde hat. Mikhail hat gehört, dass Russen, die vor Putins Mobilmachung fliehen, in Deutschland politisches Asyl erhalten können. Nur konnte ihm bisher niemand erklären, wie er ohne Visum nach Deutschland fliegen kann, um seinen Asylantrag zu stellen. Er will beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul Näheres erfahren.
Ziel Deutschland
Die Diplomaten werden ihm allerdings kaum helfen können. Bei deutschen Politikern herrscht zwar breiter Konsens darüber, dass russische Kriegsdienstverweigerer aufgenommen werden sollen. Bisher gibt es aber in Berlin keine Entscheidung darüber, wie das vonstatten gehen soll. Mikhail und seine Familie müssen also ausharren.
Seinen richtigen Namen will Mikhail nicht genannt wissen, denn er befürchtet, die Türkei könne ihn nach Russland zurückschicken. Deshalb meidet er auch das Angebot eines Istanbuler Vereins, der russischen Flüchtlingen am Bosporus bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen hilft. Sein Ziel bleibt Deutschland. „Ich will vor meiner Regierung sicher sein und in einem Land leben, in dem Demokratie herrscht und das menschliche Leben geschätzt wird.“
Anders als Mikhail hat Jewgeni keine Geldsorgen. Er arbeitete bisher für ein russisches Unternehmen, das Baumaschinen in die Türkei liefert, und hat Geschäftsfreunde in Istanbul. Schon zu Kriegsbeginn im Februar eröffnete er ein Konto in der Türkei und schickte sein Geld aus Russland dorthin. Damit wollte er für den Fall vorsorgen, der jetzt eingetreten ist. Von der Mobilmachung in seiner Heimat erfuhr er während seines Urlaubs mit seiner Familie auf den Malediven. Die Rückreise, die über Istanbul nach Russland führen sollte, brach die siebenköpfige Gruppe am Bosporus ab.
Immobilienboom
In wenigen Tagen wollen Jewgeni und seine Verwandten nun von Istanbul nach Antalya fliegen, wo er eine Wohnung gekauft hat, die noch im Bau ist. Der türkische Immobilienmarkt erlebt seit dem Beginn der russischen Teilmobilmachung einen Boom: Türkischen Medien zufolge verzeichnen Immobilienmakler seit der vergangenen Woche bei Anfragen russischer Staatsbürger einen Anstieg von 40 Prozent im Vergleich zu der Zeit vorher. Reiche Ausländer, die länger als nur vorübergehend in der Türkei bleiben wollen, können sich mit einer Investition von mindestens 400.000 Dollar einen türkischen Pass besorgen.
So weit ist Jewgeni noch nicht. Er richtet sich aber darauf ein, in der Türkei neu anzufangen, denn eine baldige Heimkehr hält er für ausgeschlossen. „Das wird der dritte Weltkrieg“, sagt er über den Konflikt in der Ukraine. „Und wie lang hat der letzte Weltkrieg gedauert? Sechs Jahre. So lang werden wir wohl hier bleiben.“