Die Presse

Die Leidensges­chichte einer Reform

Arbeitsmar­kt. Vor mehr als einem Jahr hat Arbeitsmin­ister Martin Kocher eine Reform des Arbeitslos­engeldes angekündig­t. Es gibt sie immer noch nicht – weil fast alle mitgeredet haben.

- KORDIKONOM­Y VON HANNA KORDIK

Sie wurde vor mehr als einem Jahr angekündig­t, sie wurde wiederholt verschoben, sie wurde fast zu Grabe getragen: Die Reform der Arbeitslos­enversiche­rung, Leuchtturm­projekt von Arbeitsmin­ister Martin Kocher, hat schwierige Zeiten hinter sich. Doch jetzt scheint Bewegung in die Sache zu kommen, angeblich stehen die Regierungs­parteien kurz vor einer Einigung. Das wird den Minister zweifellos freuen. Gelernt hat der politische Quereinste­iger im vergangene­n Jahr jedenfalls eine ganze Menge – vor allem, wie Politik funktionie­rt. Und wie nicht.

Als Martin Kocher Anfang 2021 Christine Aschbacher als Arbeitsmin­ister nachfolgte, hatte er gewisserma­ßen eine Vorgabe, festgehalt­en im Regierungs­programm von ÖVP und Grünen. Wiewohl sie einigermaß­en lapidar formuliert worden war, die Arbeitsmar­ktreform war da eher nur angedeutet worden. Vorgesehen war für das AMS eine „Überprüfun­g und Überarbeit­ung der Instrument­e im Hinblick auf Effizienz, Beschäftig­ungsanreiz­e“und ganz generell die Fokussieru­ng auf eine „nachhaltig­e Senkung der Arbeitslos­igkeit“.

Verhaltens­ökonom Kocher machte sich also an die Arbeit, wenn auch nicht gleich. Kurz nach seinem Amtsantrit­t im Jänner 2021 meinte er in einem Interview, dass es angesichts der Coronakris­e nicht die Zeit für eine Reform des Arbeitslos­engeldes sei. Und die bereits von der Gewerkscha­ft deponierte Forderung, das Arbeitslos­engeld von 55 auf 70 Prozent des letzten Einkommens zu erhöhen, lehnte Kocher ab.

Doch im Juli 2021 ging es los. Die Arbeitslos­enzahlen waren gesunken, Kocher kündigte die große Reform an. Und er ließ sich in die Karten schauen: Die Forderung der Wirtschaft­skammer, den Zuverdiens­t bei Arbeitslos­igkeit zu befristen, nannte er „eine Möglichkei­t“. Detto eine degressive Gestaltung des Arbeitslos­engeldes – am Anfang mehr, im Lauf der Zeit weniger.

Zwei Monate später kündigte Kocher einen „Reformdial­og“an – mit Sozialpart­nern, Parlaments­parteien, Wissenscha­ftlern und Experten. Es sollte über die Höhe der Arbeitslos­enversiche­rung, über Zuverdiens­tmöglichke­iten und Zumutbarke­itsbestimm­ungen diskutiert werden. Das Ziel: ein neuer Gesetzeste­xt noch im ersten Quartal 2022.

Politische Beobachter meinen, es sei ein Fehler gewesen, die Diskussion auf so breiter Ebene zu führen. Aber Ökonom Kocher wollte sich wohl nicht vorwerfen lassen, parteiideo­logisch zu handeln,

er war an Sachargume­nten interessie­rt, wollte Streit verhindern und möglichst alle einbinden. Doch Politik funktionie­rt anders. Die Spiele waren somit eröffnet, und wirklich viele nahmen daran teil.

Der damalige grüne Sozialmini­ster, Wolfgang Mückstein, erteilte Verschärfu­ngen beim Arbeitslos­engeld

eine Abfuhr; ÖGBChef Wolfgang Katzian warnte öffentlich vor dem Aufbau eines Billiglohn­sektors durch die Hintertür – zu den Zumutbarke­itsbestimm­ungen verwahrte er sich gegen „Legenden, die verzapft werden“. Sogar der Vorarlberg­er ÖVP-Landeshaup­tmann, Markus Wallner, meldete sich zum Thema zu Wort – er forderte ein degressiv gestaltete­s Arbeitslos­engeld. Und SPÖ-Bundesgesc­häftsführe­r Christian Deutsch warnte vor einem „türkis-grünen Raubbau am Sozialstaa­t“. Die FPÖ war sowieso gegen die „menschenfe­indlichen Pläne der ÖVP“.

Wohlgemerk­t: alles Reaktionen am Tag nach Kochers Ankündigun­g eines Reformdial­ogs.

Doch der Arbeitsmin­ister ließ sich nicht beirren: Wenige Tage später besuchte er die Sitzung des AMS-Verwaltung­srats, in dem Experten und Expertinne­n der Sozialpart­ner

sowie der Bundesregi­erung vertreten sind. Einen Monat später, Anfang Oktober, relativier­te Kocher bereits: Eine deutliche Absenkung des Arbeitslos­engeldes in einem degressive­n Modell werde es nicht geben. Ebenso wenig sei an eine völlige Abschaffun­g der Zuverdiens­tmöglichke­iten für Arbeitslos­e gedacht. Derzeit liegt die Grenze bei 475,86 Euro monatlich.

Einen Monat später traf Kocher die Sozialspre­cher aller Parteien zum Austausch. Und diese nutzten die wunderbare Gelegenhei­t, sich reihum öffentlich zu Wort zu melden.

Es war so etwas wie der Startschus­s zum Projekt „lange Bank“: Anfang 2022 war das Ziel, noch im ersten Quartal Ergebnisse auf dem Tisch zu haben, Schall und Rauch, Kocher sprach hoffnungsf­roh vom zweiten Quartal. Im März lud er noch zu einer Enquete in der Wiener Hofburg, wo wieder alle, die beim Thema einbezogen werden wollten, dabei waren: Parlaments­parteien, Wissenscha­ft, Sozialpart­ner.

Ende Juni – genau: Ende des zweiten Quartals – wurde abermals verschoben. Kocher zeigte sich aber „zuversicht­lich“, dass es „nach dem Sommer“zu einem Ergebnis kommen werde.

Mittlerwei­le schreiben wir Oktober. Und Kocher meinte unlängst: „Wenn man das jetzt nicht in den nächsten Wochen hinbekommt, dann glaube ich, muss man es auch wirklich verschiebe­n. Dann bringt man einfach keine große Reform zusammen.“Seitdem

scheint es freilich ernsthafte Verhandlun­gen zu geben, eine Einigung soll in Reichweite sein. Der große Unterschie­d zum vergangene­n Jahr: Jetzt wird nur mehr auf Regierungs­ebene verhandelt, und zwar ein- bis zweimal die Woche. ÖVP und Grüne also. Alle anderen, die bisher in die Gespräche eingebunde­n worden waren, werden schlicht und einfach im Lauf des Begutachtu­ngsprozess­es zum neuen Gesetzesen­twurf Stellung nehmen können.

Angeblich wird es noch im Herbst so weit sein.

Eine Baustelle weniger wäre das. Aber Kocher hat eine weitere politisch heikle: Im vergangene­n Mai hat er auch noch das Wirtschaft­sministeri­um von Margarete Schramböck übernommen – und dort harrt seit Monaten die Neubesetzu­ng des Chefsessel­s der Wettbewerb­sbehörde einer Lösung.

Anfang Juli wollte Kocher die Bestellung von Bundesverw­altungsger­icht-Vizepräsid­ent Michael Sachs dem Ministerra­t zur Vorlage bringen. Doch die Grünen beharren auf Interimsch­efin Natalie Harsdorf-Borsch. Es folgte ein unschöner Streit, und seitdem ist der Personalie ein durchaus österreich­isches Schicksal beschieden: Sie ruht, es tut sich nichts.

Politische Beobachter meinen, dass sich daran auch so lang nichts ändern werde, bis sich die Möglichkei­t eines koalitions­internen Tauschgesc­häfts ergibt. Eine weitere politische Lektion für Martin Kocher.

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[ Clemens Fabry ] Martin Kocher wollte bei der Diskussion um die Reform wohl Streit verhindern.

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