Die Presse

Der Mann, der Mussolini entlarvte

Italien. 100 Jahre nachdem Mussolini mit seinem „Marsch auf Rom“die Macht eroberte, bekommt Italien eine postfaschi­stische Regierung. Es ist an der Zeit, Emilio Lussu zu lesen.

- VON GÜNTHER HALLER

Die verharmlos­ende Sicht auf den Mann, der Italien von 1922 bis 1945 als Diktator beherrscht­e, hat schon eine lange Tradition. 1940 trat in Charlie Chaplins „The Great Dictator“ein wild gestikulie­render Hansdampf namens Benzino Napoloni auf, in Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“von 1929 ein „zungengewa­ndter Conférenci­er“und Zauberküns­tler mit hypnotisie­render Wirkung namens Cipolla. Vorbild ist in beiden Fällen unverkennb­ar Benito Mussolini, der Politiker mit dem langen Nachleben.

Um ihn ranken sich viele Mythen, viele gehen auf ihn selbst zurück. Zu seiner Lebenszeit erschienen 400 Monografie­n über ihn und begründete­n den mussolinia­nismo, die italienisc­he Variante des Kults um einen charismati­schen Führer. Zwei moderne romanhafte Darstellun­gen seines Lebens, von Antonio Pennachi und Antonio Scurati, wurden zuletzt mit Literaturp­reisen geehrt.

DIE WELT BIS GESTERN

Bis heute ist Mussolini nicht aus dem politische­n Diskurs Italiens verschwund­en. Offiziell wurde hier zwar das Kapitel Faschismus 1946 mit einer großen Amnestie abgeschlos­sen, das verhindert­e jedoch nicht nur die juristisch­e Aufarbeitu­ng, sondern beförderte auch den kollektive­n Verdrängun­gsprozess. Man ließ die Vergangenh­eit ruhen, verharmlos­te die Regimejahr­e und verdrängte den Terror. Er sei ja doch nur dem Bündnis mit Nazi-Deutschlan­d geschuldet gewesen (ein entlastend­es OpferNarra­tiv, das uns Österreich­ern nicht ganz unbekannt ist). Es ist daher nicht erstaunlic­h, dass eine dem Geist des Faschismus entsprunge­ne politische Bewegung 2022 an die Macht kommen kann, auch wenn man sich dort geschichts­kritisch gibt und als moderne rechte Kraft bezeichnet werden will.

Nur Verwirrung und Verführung?

Selbstvers­tändlich war das Kapitel Faschismus in der Nationalge­schichte des Landes kein unbedeuten­des Intermezzo, in dem es zur Verwirrung und Verführung eines gutgläubig­en Volkes durch einen perfiden Manipulato­r kam. Mussolini stellte gegen Ende seines Lebens selbst fest: „Ich habe den Faschismus nicht geschaffen: Ich habe ihn aus dem Unbewusste­n der Italiener entnommen. Wenn es nicht so gewesen wäre, wären sie mir nicht alle über zwanzig Jahre hinweg gefolgt.“

Eine neue wissenscha­ftliche Studie von Frank Schuhmache­r über Mussolinis Rhetorik geht diesem Phänomen auf den Grund: Mussolini habe als Dompteur der Massen auf die Wünsche und Sehnsüchte seines Publikums zurückgrei­fen können, auf gängige, akzeptiert­e Ansichten. Das Nachkriegs­narrativ, dass die Italiener seiner verdeckten Manipulati­on hilflos erlegen seien, wird in der großen Propaganda-Analyse Schuhmache­rs widerlegt. Hier erfährt man, wie er mit seiner Rhetorik gesellscha­ftlichen Konsens erlangte und aufrechter­hielt.

Nicht grundlos wird gleich zu Beginn dieser Untersuchu­ng Emilio Lussu, der Antifaschi­st und Zeitgenoss­e Mussolinis, zitiert, mit seinem Satz: „Imaginatio­n spielt in Zeiten politische­r Unruhen immer eine große Rolle.“Das gelte für das politische Handeln generell, besonders aber für den Faschismus. Mussolini erzeugte Konsens, indem er vorhandene Mythen erfolgreic­h adaptierte: die romanita`, die Anknüpfung an das antike Rom, und die Anbindung an die Zeit des italienisc­hen Nation Building. Das förderte ein kulturelle­s Verständni­s der Nation, das zu einem dezidierte­n Führungsan­spruch in Europa führte.

Die eigene Nation wurde sakralisie­rt. Italien habe endlich sein Imperium, verkündete Mussolini 1936 nach dem Abessinien­Krieg. Dieses Wort, „impero“, übte einen suggestive­n Reiz aus, jeder Italiener konnte sich etwas anderes darunter vorstellen. Es war „das Wort, von dem Generation­en und Generation­en von Italienern geträumt haben, dieses Wort, das uns in der Jugend fasziniere­nd aufblitzte“(La Stampa, 1936).

Besonders das Konzept „Politik ist Krieg“wurde von Mussolini durchgehen­d angewendet. Er konstruier­te vor allem eine kriegerisc­he Sicht auf die Realität und konnte somit die in der faschistis­chen Ideologie enthaltene­n Ziele wie beispielsw­eise die koloniale Eroberung verwirklic­hen. Mit seiner Kriegsrhet­orik konnte er innenpolit­ische Einheit herstellen und außenpolit­isch Stärke demonstrie­ren. Es verwundert daher nicht, dass er seine Machtergre­ifung mit einem „Marsch auf Rom“inszeniert­e, der sich 2022, am 27. Oktober, zum 100. Mal jährt.

Doch das war eine peinliche Schmierenk­omödie und Farce, berichtete Emilio Lussu (1890−1975) in seinem glänzend geschriebe­nen Bericht aus dem Jahr 1932, der nun wieder auf Deutsch vorgelegt wird. Der linksbürge­rliche sardische Politiker stand 1922 in Opposition, er geriet als Parlaments­abgeordnet­er in den zähen Kampf gegen die Faschisten, die sich die Unzufriede­nheit der Nationalis­ten über den Ausgang der Friedensve­rhandlunge­n von 1919 zunutze machten. Mussolini, der seine frühe sozialisti­sche Phase bald hinter sich gelassen hatte, überzog das Land wie ein Spinnennet­z mit seinen brutalen Schlägertr­uppen und bereitete so das Klima vor, in dem er dann seinen Coup ausführen konnte.

Lussu, der nicht nur Politiker, sondern auch ein wunderbare­r Schriftste­ller war, erlebte das mit. Als Augenzeuge beschrieb er unglaublic­h anschaulic­h und mit spitzer satirische­r Feder die historisch­en Ereignisse. Er büßte seine antifaschi­stische Haltung mit Gefängnis und Verbannung auf die Strafinsel Lipari, von wo er 1929 entfliehen konnte. 1932 verfasste er im französisc­hen Exil sein Buch „Marsch auf Rom und Umgebung“.

Im Mittelpunk­t steht jene Aktion von Ende Oktober 1922, die mit dieser „maßlos überzeichn­eten Etikette“(Anton Pelinka) in die Geschichte einging.

Lussu genügt für die entlarvend­e Charakteri­sierung schon der Titel seines Berichts, der an einen Reiseführe­r erinnert. Bezeichnen­d, dass Mussolini selbst das Geschehen weit weg, von Mailand aus, verfolgte. „Die vom Duce getroffene Wahl des Gefechtsst­andes ist zweifellos originell“, schreibt Lussu. Vielleicht war es doch günstig, die Schweizer Grenze in der Nähe zu haben, falls alles schiefging. Der „Marsch“Mussolinis bestand dann in einer Zugfahrt im Schlafwage­n von Mailand nach Rom.

Improvisie­rte, fast lächerlich­e Aktion

„Zwei Kanonensch­üsse genügen, und es ist aus mit dem Marsch“, sagte man damals angesichts der unzähligen Pannen im Vorfeld. Doch der Putsch, eigentlich eine improvisie­rte Aktion mit vielen lächerlich­en Zügen, verlief überrasche­nd schnell und erfolgreic­h, infolge der Ohnmacht und Unfähigkei­t der italienisc­hen Institutio­nen, allen voran des schwachen Königs Vittorio Emanuele III. Er rief die Soldaten zurück in die Kasernen, gab ebenso wie die Mehrheit des Parlaments dem Druck der gewaltbere­iten Minderheit, die die Straße beherrscht­e, nach und ernannte Mussolini am 29. Oktober 1922 zum Regierungs­chef. Niemand kam auf die Idee, dem Hasardeur etwas in den Weg zu legen. Die auf Rom marschiere­nden Schwarzhem­den waren so desorganis­iert, dass sie erst zwei Tage danach die Hauptstadt erreichten.

Das neu aufgelegte Buch von Emilio Lussu erschien auf Deutsch erstmals 1971, mit einem Nachwort des bekannten Südtiroler Journalist­en Claus Gatterer, der den bürgerlich­en Humanisten Lussu als „Ewig-Morgigen“beschreibt, der überzeugt sei „von der Güte des Menschen wie von der Verbesseru­ngsfähigke­it der Welt“. Nie wäre es ihm eingefalle­n, in den 17 Jahren der Haft und des Exils in Selbstmitl­eid zu verfallen. „Wer gegen Mussolini auftritt, muss in Kauf nehmen, dass Mussolini ihn mit faschistis­chem Hass und faschistis­chen Mitteln bekämpft. Wer das Wesen des Faschismus erkannt hat, jammert nicht darüber, dass der Faschismus sich wesensgere­cht verhält“, sondern er suche Rezepte, die gegen die Macht der autoritäre­n Ideologie immun machen. Wie eben dieses Buch. Dass man damals dem Diagnostik­er nicht glaubte, dass man nicht auf ihn hörte, sei nicht seine Schuld.

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„Marsch auf Rom und Umgebung“
Übersetzt von Claus Gatterer Folio-Verlag
269 Seiten, 25 €
Emilio Lussu „Marsch auf Rom und Umgebung“ Übersetzt von Claus Gatterer Folio-Verlag 269 Seiten, 25 €
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„Benito Mussolini – Konsens durch Mythen“
Verlag Brill Fink
416 Seiten, 132,70 €
Frank Schuhmache­r „Benito Mussolini – Konsens durch Mythen“ Verlag Brill Fink 416 Seiten, 132,70 €
 ?? [ AKG-Images/picturedes­k.com ] ?? Mussolini, der Meister der martialisc­hen Miene, mit Kampfgenos­sen am 28. Oktober 1922.
[ AKG-Images/picturedes­k.com ] Mussolini, der Meister der martialisc­hen Miene, mit Kampfgenos­sen am 28. Oktober 1922.

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