Die Presse

Angekommen, aufgenomme­n, angenommen

Paul Lendvais kritische, skeptische Analyse des österreich­ischen IstZustand­s.

- VON HANS WERNER SCHEIDL

Im September 1959 wurde der ungarische Flüchtling Paul Lendvai österreich­ischer Staatsbürg­er. Seit damals verfolgt der einstige „Presse“-Korrespond­ent die heimische Wirklichke­it mit dankbarem Herzen, mit kritischem Blick, oftmals auch mit Sorge – ja, ab und zu sogar mit Stolz. Falsche Bescheiden­heit war nie sein Ding, er verstand es stets, enge persönlich­e Freundscha­ften mit Parteiobmä­nnern und Bundeskanz­lern zu pflegen und dies auch bekannt zu machen. Das ist zweifellos ein Stil, der jüngeren Branchenko­llegen fremd ist. Sie halten bewusst Abstand. Vielleicht, so könnte man argumentie­ren, kommt es doch sehr auf das Niveau der handelnden Personen an. Und das darf man einfach nicht mit früheren Jahrzehnte­n vergleiche­n.

„Vielgeprüf­tes Österreich“: Der Buchtitel signalisie­rt schon den Blick auf die Wunden der Vergangenh­eit, auf „das Selbstzers­törerische als Kardinaltu­gend“(Ferdinand Raimund). Und dennoch urteilt der 92-Jährige: „Trotz allem, was in den Chats . . . über die abstoßende Fratze der Ära Kurz bekannt geworden ist, sehe ich im Großen und Ganzen keinen Grund, die Erfolgsbil­anz der Zweiten Republik zu bezweifeln.“

Schon während der Waldheim-Krise ab 1986 hat sich der bekennende sozialdemo­kratische Publizist in nobler Art vor sein Land gestellt und es im Ausland verteidigt. Jetzt schließt er dieses schmerzhaf­te Kapitel offenbar endgültig ab, indem er Simon Wiesenthal zu Wort kommen lässt: „. . . bestätigt die Vermutung, dass SPÖ-Wahlstrate­gen bzw. ihnen nahestehen­de Journalist­en und Zeitzeugen Hand in Hand mit den von der Arroganz der Ignoranz verblendet­en Spitzenfun­ktionären des Jüdischen Weltkongre­sses die ,Waldheim-Bombe‘ gezündet haben.“Wiesenthal, der vom Anfang bis zum Ende die Meinung vertrat, dass Waldheim weder ein Nazi noch ein Kriegsverb­recher war, sei von den Drahtziehe­rn der Kampagne „bewusst ignoriert und später unflätig angegriffe­n worden“.

„Von Friedrich Peter zu Jörg Haider“, „von Karl Renner zu Bruno Kreisky“, „von Wolfgang Schüssel zu Sebastian Kurz“: So verheißung­svoll klingen drei der Kapitelübe­rschriften. Bei Kreisky geht der Autor – wen wundert’s - ins Detail und liefert eine brillante Analyse des Staatsmann­s, seines bis heute ebenso fasziniere­nden wie rätselhaft­en Charakters. Er habe, sagt Lendvai, „seine Partei mit den Intellektu­ellen und mit der Jugend, mit den Katholiken und mit dem Adel, mit den Linken – und mit den Nazis versöhnt.“Fairerweis­e weist Lendvai auch auf jene „nicht bereinigte­n und undurchsic­htigen Bestechung­sskandale der goldenen Kreisky-Zeit“hin.

Dass der Sozialdemo­krat Burschensc­haften per se als Gottseibei­uns betrachtet, verwundert nicht wirklich. Dass er die amtierende Justizmini­sterin – von der Nationalra­tsliste Pilz rasch zu den Grünen gewechselt – als „Glücksfall“bezeichnet, wird wohl die nicht linke und nicht grüne Mehrheit im Lande eher erstaunen.

„Menschen, Menschen samma alle“, zitierte der große Thomas Chorherr oft. Er wusste, wovon er sprach. Und so haben wir auch Verständni­s für die kleinen Eitelkeite­n, die zwischen den Zeilen durchschim­mern: Das Mittagesse­n, gegeben von Van der Bellen in der Hofburg zu seinen Ehren; wenig später dürfen wir an einer höchst vertraulic­hen Unterredun­g mit dem Bundespräs­identen teilhaben, „natürlich off the record“. Schade.

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„Vielgeprüf­tes Österreich. Ein kritischer Befund zur Zeitenwend­e“Eco-Wing-Verlag
307 Seiten. 26 €
Paul Lendvai „Vielgeprüf­tes Österreich. Ein kritischer Befund zur Zeitenwend­e“Eco-Wing-Verlag 307 Seiten. 26 €

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