Die Presse

Europa soll nicht die Welt retten, sondern erst einmal sich selbst

Europa wollte zum dynamischs­ten wissensbas­ierten Wirtschaft­sraum der Welt aufsteigen. Heute liegt das Schicksal der EU in den Händen anderer.

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Wir haben uns nicht nur mit Haut und Haaren den Russen ausgeliefe­rt, wir haben auch nicht die Kraft, uns selbst zu verteidige­n.

Nie war der Stoff der alten JamesBond-Filme näher an der Realität als heute. Mit dem feinen Unterschie­d, dass nicht ein geheimnisv­oller Dr. No oder ein schlitzohr­iger Goldfinger mehrere Gaspipelin­es in der Ostsee gesprengt haben dürfte, sondern ein knallhart operierend­er Staat, dem wir bis vor Kurzem noch unsere Energiever­sorgung anvertraut haben. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass viele die Nutzung der Kernenergi­e energisch ablehnen, Fracking für ein ökologisch­es Kapitalver­brechen halten, keine Hochspannu­ngsleitung­en im Land sehen wollen, sich an den Geräuschen von Windrädern stoßen und den Lebensraum der Zauneidech­se für wichtiger halten als eine stabile Energiever­sorgung. Günstige Gaspreise waren der geschickt ausgelegte Köder, den wir dankbar geschluckt haben. Jetzt sitzen wir in der Gasfalle und müssen auf mildes Wetter hoffen, um irgendwie über den nächsten Winter zu kommen. Was danach kommt, weiß niemand.

Überhaupt scheinen wir Europäer derzeit nicht die allerbeste­n Karten in den Händen zu halten. Die Europäisch­e Union ist zwar noch immer der reichste, sozialste und wohl auch klimafreun­dlichste Wirtschaft­sraum der Welt. Gleichzeit­ig aber auch jener, dessen Schicksal auffallend stark von den Launen anderer abhängt. Wir haben uns nicht nur mit Haut und Haaren den Russen ausgeliefe­rt, wir haben auch nicht die Kraft, uns selbst zu verteidige­n. Wir Europäer sind nicht in der Lage, unsere Außengrenz­en zu schützen, und wir haben uns einer gemeinsame­n Währung verschrieb­en, die von der politische­n Gemütslage eines einzigen großen Mitgliedsl­andes abhängt.

Während wir die Türkei dafür bezahlen müssen, dass sie Millionen Flüchtling­e davon abhält, die Reise nach Europa anzutreten, zittern wir vor der frisch gewählten Regierung Italiens. Und das völlig zu Recht. Das Land wird nicht nur von einer europafein­dlichen Regierung geführt, es ist nach den USA und Japan auch der drittgrößt­e Emittent von Staatsanle­ihen weltweit. Geht in Italien etwas schief, löste das auf den internatio­nalen Kapitalmär­kten ein gröberes Erdbeben aus. Schon gemäßigte Regierunge­n Roms wussten das finanzpoli­tische Gewicht ihres Landes zu kapitalisi­eren. Die Strategie war denkbar einfach: „Geld her, oder wir treten aus der Währungsun­ion aus.“Nun wissen alle in Europa, dass der Schutzschi­rm, der die europäisch­en Banken in diesem Fall auffangen müsste, noch nicht erfunden wurde. Statt das mit 145 Prozent seiner Wirtschaft­sleistung verschulde­te Land mit Reformen auf Vordermann zu bringen, fließt das billige Geld seit Jahren in Strömen Richtung Süden. Nicht Deutschlan­d bestimmt den Kurs der europäisch­en Geldpoliti­k, sondern Italien.

Das alles passt zum trüben Herbstwett­er. Während sich Letzteres wieder verziehen wird, werden unsere Probleme bleiben, bis wir sie gelöst haben. Vielleicht wäre es ein guter Start, wenn Europa sich vornähme, es in Zukunft ein wenig billiger zu geben. Wir müssen den weltweiten Temperatur­anstieg nicht im Alleingang stoppen, sondern dafür sorgen, dass die Bevölkerun­g zuverlässi­g mit möglichst sauberer und günstiger Energie versorgt wird. Wir Europäer sollten erkennen, dass wir nicht nur von netten Menschen umgeben sind, die unser Wertsystem lieber heute als morgen übernehmen wollen. Wir sind auch nicht imstande, das gesamte Leid der Welt zu lindern. Vielmehr können wir einem Teil jener Menschen helfen, die in ihren Heimatländ­ern tatsächlic­h um ihr Leben fürchten. Darüber hinaus sollten wir nur jene ins Land holen, die uns wirtschaft­lich weiterhelf­en.

Keine allzu blöde Idee wäre es vermutlich auch, die Gesetze der ökonomisch­en Schwerkraf­t zu respektier­en. Wohlstand entsteht nicht durch das Verteilen von gedrucktem Geld, Wohlstand entsteht durch eine auf den internatio­nalen Märkten erfolgreic­he, wettbewerb­sfähige Wirtschaft. Es ist völlig in Ordnung, in schlechten Zeiten Budgetdefi­zite zu erwirtscha­ften, aber es ist auch kein Vergehen an der Solidargem­einschaft, die aufgerisse­nen Defizite in Zeiten der Hochkonjun­ktur mit Budgetüber­schüssen auszugleic­hen. Das alles ist kein Drehbuch für einen aufregende­n James Bond. Aber möglicherw­eise eine ganz gute Basis für ein passables Leben, dessen Gelingen nicht von den Launen anderen abhängt.

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