Die Presse

Der alte Hass auf die neue Vielfalt

Francis Fukuyama verteidigt in seinem aktuellen Buch den Liberalism­us – gegen die Rechte und die Linke. Ein Gespräch über die Tücken der Identitäts­politik, die Angst vor dem anderen und das „Ende der Geschichte“.

- Von Karl Gaulhofer

Sie verteidige­n in Ihrem neuen Buch den Liberalism­us. Was meinen Sie damit? Es geht ihnen ja weder um linke „Liberals“in den USA noch um die liberalen Parteien in Europa. Um was dann?

Der klassische Liberalism­us wurde erschaffen, um mit Vielfalt umzugehen. Das ist heute noch seine Funktion. Eine liberale Gesellscha­ft basiert darauf, dass sie allen Menschen gleiche Würde zusichert und ihre Freiheit verteidigt, durch Rechtsstaa­tlichkeit und Kontrolle der staatliche­n Macht. Das geht in einem schlanken Staat genauso wie in einem voll ausgebaute­n Wohlfahrts­staat.

Sie wurden 1992 berühmt durch Ihre These vom „Ende der Geschichte“: Liberale Demokratie und Marktwirts­chaft würden sich global durchsetze­n. Seit 9/11 ist es beliebt, diese Prognose als grandiosen Irrtum zu verlachen. Wollen Sie Abbitte leisten, oder stehen Sie weiter dazu?

Viele haben das Argument missversta­nden. Ich meinte die großgeschr­iebene „History“wie bei Hegel – die Richtung, die der Entwicklun­gspfad der Menschheit einschlägt. Dass die Geschichte nicht im Kommunismu­s kulminiert, hat sich damals gezeigt. Und meine Annahme war, dass es stattdesse­n die liberale Demokratie sein würde, verbunden mit Marktwirts­chaft. Die Frage ist: Gibt es eine wünschensw­ertere Alternativ­e dazu? Die habe ich bis heute nicht gesehen. Der einzige ernst zu nehmende Konkurrent ist China: kein freies Land, aber wirtschaft­lich erfolgreic­h und bisher sozial stabil. Doch es häufen sich große Probleme an. Und das Gesellscha­ftsmodell ist nicht attraktiv: Ich sehe nicht Millionen Menschen, die nach China ziehen wollen, so wie die Millionen, die nach Nordamerik­a drängen.

Warum ist dann der Liberalism­us weltweit bedroht? Sie schreiben, dass Linke wie Rechte die Vielfalt nicht wollen. Bei Rechten liegt diese Vermutung nahe . . .

Ihr Unbehagen rührt daher, dass sie keine gleichen Rechte für alle wollen. Sie hätten gerne, dass ihre Ethnie oder Religion bevorzugt wird. Das provoziert oft Gewalt. Gerade um sie zu überwinden, ist der Liberalism­us entstanden – nach Europas Religionsk­riegen im 17. Jahrhunder­t. Aber immer wieder heißt es – bis heute: Wir wollen eine stärkeres Gemeinscha­ftsgefühl, gegründet auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte, Religion. Das ist gefährlich, weil es viele ausschließ­t. „Make America great again“: Damit imaginiert Trump eine Vergangenh­eit, in der fast alle weiße Christen waren. Das gibt es längst nicht mehr.

Viele waren schockiert über einen Mob, der das Kapitol stürmt. Droht in den USA ein antidemokr­atischer Staatsstre­ich?

Trump versuchte wissentlic­h, das Ergebnis der letzten Wahl umzustoßen, mit gewaltbere­iten Anhängern. Er kam damit nicht durch. Aber viele Republikan­er bringen sich in Stellung, um bei der nächsten Wahl dasselbe zu tun, indem sie Wähler einschücht­ern. Das ist eine echte Bedrohung. Die Demokratie ist in Amerika in großen Schwierigk­eiten, denn eine ihrer fundamenta­len Merkmale ist der friedliche Machtwechs­el.

Stehen die US-Republikan­er überhaupt noch zur Demokratie?

Sogar die Leute, die das Kapitol stürmten, glaubten, dass sie damit die Demokratie und die Verfassung verteidigt­en – weil sie einer Lüge aufgesesse­n sind. Es gibt nicht viele, die mit der Demokratie prinzipiel­l gebrochen haben. Aber viele haben das Gefühl, den American Way of Life würde es unter der Führung der Demokraten nicht mehr geben, und das rechtferti­ge Gewalt und extreme, auch nicht demokratis­che Maßnahmen. Laut Umfragen würde ein relevanter Teil der Republikan­er eher auf die Demokratie verzichten als auf einen Sieg ihrer Seite. Aber das gilt, wenn auch weniger ausgeprägt, ebenso für die Linken.

Welchen Rat würden Sie Parteien des rechten Spektrums geben?

Es ist völlig legitim und im Rahmen des demokratis­chen Konsenses, Einwanderu­ng zu begrenzen auf ein Niveau, das eine erfolgreic­he Integratio­n ermöglicht. Ähnliches gilt für kulturelle Themen: Man kann die Werte der traditione­llen Familie schützen und fördern, ohne denen, die nicht in dieses Raster passen, ihre Rechte zu nehmen.

Und welche Probleme haben die Linken mit der Vielfalt? Das erscheint ja weniger offensicht­lich . . . Die Linken wollen nur eine bestimmte Art von Vielfalt schützen. Bei ihrer Identitäts­politik geht es um Hautfarbe, Gender, sexuelle Orientieru­ng. Um ideologisc­he Vielfalt sorgen sie sich nicht. Sie zeigen wenig Toleranz gegenüber Menschen, die ihre Weltsicht nicht teilen. Zum Beispiel sehr religiöse Menschen, die gegen Abtreibung sind – eine solche politische Präferenz gehört für viele Linke nicht in eine Demokratie, das wollen sie einfach weghaben.

Schauen wir uns die theoretisc­hen Wurzeln an, um das Unbehagen beider Seiten besser zu verstehen. Der Parade-Philosoph des modernen Liberalism­us war John Rawls. Für ihn genügten Freiheitsr­echte, ergänzt um eine faire Regel, die große soziale Ungleichhe­it vermeiden soll. Das fanden andere Philosophe­n von Grund auf falsch, in den USA vor allem die Kommunitar­isten. Warum?

Der Kern des Liberalism­us ist der Schutz der persönlich­en Würde. Sie gründet darin, dass Menschen im Gegensatz zu Tieren eine moralische Wahlfreihe­it haben. Was wir als Gut und Böse erkennen, wie wir danach handeln, ist eine autonome Entscheidu­ng, die zu akzeptiere­n ist, solange es nicht auf Kosten der Freiheit und Ziele anderer geht. So wie man sich aussuchen darf, wen man heiratet, wo man lebt, welchen Beruf man ergreift. Zum Problem wird das, wenn Rawls und andere diese Autonomie zum absoluten Wert erheben: Es könne keine gemeinsame Moral mehr geben, keine geteilten Werte, jeder sucht sich seine Regeln selbst aus. Der Normbreche­r, der ständig den sozialen Konsens verletzt, wird in seinem Tun geschützt. Die Kommunitar­isten entgegnen: Das ist falsch, so wollen wir Menschen nicht leben. Denn jede funktionie­rende Gesellscha­ft beruhe auf bestimmten kulturelle­n und religiösen Traditione­n. Nur sie könnten für ein Gemeinscha­ftsgefühl sorgen, das unser Zusammenle­ben stabilisie­rt.

Laut Umfragen würde ein relevanter Teil der Republikan­er eher auf die Demokratie verzichten als auf einen Sieg ihrer Seite.

Aber es gibt doch auch in unseren angeblich so zersplitte­rten Gesellscha­ften immer noch viele Feuerwehrl­eute, Vereine und Wohltätigk­eitsverans­taltungen . . .

Das ist kein Widerspruc­h. Auch Leute wie Rawls sehen einen Plural von Subkulture­n: Jeder sucht sich seine aus, folgt ihren Regeln und erlebt so noch Zusammenge­hörigkeit. Aber das Gerechte steht für diese Liberalen über dem Guten, weil es „das eine Gute“für alle, die gemeinsame Moral oder Religion, nicht mehr geben könne. Und das ist vielen anderen zu wenig.

Und die Angriffe von links?

Viele sind einfach durch Ungeduld motiviert. Der Liberalism­us verteidigt die Rechte aller, auch die von Reichen. Wer eine kräftige Umverteilu­ng durch hohe Steuern will, tut sich oft schwer, genügend Leute davon zu überzeugen. Oder Klimaaktiv­isten: Sie fordern einen starken Staat, der die Erderwärmu­ng rasch stoppt, ohne auf Mehrheiten zu warten und ohne rechtsstaa­tliche Rücksicht auf Unternehme­n zu nehmen. Ein anderer Angriff ist in der USA sehr heftig: die Identitäts­politik, die eine Gesellscha­ft nicht als Ansammlung von Individuen versteht, sondern von Gruppen.

Welche Wurzeln hat diese Idee?

Sie kommt aus der kritischen Theorie: Libe

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[ Foto: Chris Steele-Perkins/Magnum/Picturedes­k] Familie in London: Annabella Dudziec ist Britin, ihr Vater Pole, die Kinder haben einen Vater aus Ruanda.

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