Kasachstan und seine Russen
Expedition Europa. Ob er keine Angst habe, wurde ein junger Mann im wehrpflichtigen Alter gefragt, gerade jetzt nach Russland zurückzukehren? Er antwortete: „Da gibt’s nichts zu befürchten.“
Es war ein Zufall, dass ich die ersten Tage nach Putins Mobilmachung in Kasachstan verbrachte und mich auf dem großen Schachbrett der Geopolitik wiederfand. Meine Ambition war viel bescheidener gewesen: Da meine Serie nun mal „Expedition Europa“heißt, fühlte ich mich verpflichtet, auch den Westteil Kasachstans aufzusuchen, der geografisch zu Europa gehört. Dieses Gebiet macht zwar nur fünf Prozent des neuntgrößten Landes der Erde aus, ist aber immerhin so groß wie die Tschechoslowakei.
So kam ich nach Atyrau, in die Schaltzentrale von Kasachstans Öl- und Gasförderung, die ihre Bevölkerung auf mehr als 300.000 verdoppelt hat, seit das sechstgrößte Ölfeld der Welt unter Federführung von US-Konzernen ausgebeutet wird. Atyrau liegt halb in Europa und halb in Asien.
Die meisten Kasachen kennen Europa sehr schlecht, haben nie von seinem Anteil an Europa gehört und fragen Österreicher tatsächlich nach Kängurus – sind aber Spezialisten für die „russische Welt“. Kasachstan teilt mit Russland die längste ununterbrochene Landgrenze der Welt und – ein gutes Drittel der ethnischen Kasachen sind russische Muttersprachler – auch die Sprache. Besonders in der südlichen OasenMetropole Almaty traf ich einen authentisch eurasiatischen Menschenschlag an, der sich nach europäischen Moden kleidete und bewegte, literarisches Russisch sprach und sich erst aus nächster Nähe als asiatisch entpuppte.
Das sind doch „Nazis“
Über Russlands „Spezialoperation“herrschte in der Öffentlichkeit Stille. Die russischen Georgsbändchen waren verboten, aber auch das Blau-Gelb der Ukraine steckte sich niemand an. Der Krieg kam in Kasachstans TV-Nachrichten fast nicht vor: An Tag 2 der Mobilmachung wurde mit der Pflanzung von acht Millionen Setzlingen bei Astana aufgemacht, allein eine Wirtschafts-Talkshow diskutierte wohlwollend über Auswirkungen einer möglichen Zuwanderung russischer Kriegsverweigerer auf den kasachischen Arbeitsmarkt. In persönlichen Gesprächen verurteilten besonders kasachischsprachige Russlands Feldzug als „imperialistisch“und als „Gefahr“. Ein junger Kasachstan-Russe, der zur Herstellung von Tourismus-Clips aus der nördlichen Industriestadt Aqtöbe in die südwestliche Ferienstadt
Aktau gezogen war, bezeichnete großrussische Schreihälse gar als „Nazis“.
Es war sommerlich heiß in Atyrau, ich schwamm von Asien nach Europa rüber. Das war keine Kunst, der träglehmige UralFluss führte Niedrigwasser, ich war in zehn Minuten drüben. Ich hatte Kasachstan vom nördlichen bis an den südlichen und östlichen Rand durchquert – aber ausgerechnet am europäischen Ufer hörte ich zum ersten Mal den Muezzin. Und ausgerechnet in diesem Europa stieß ich vereinzelt auf Kasachinnen mit Burka und auf kasachische Wahabiten.
Viele Atyrauer fuhren zwecks Umgehung exorbitanter Gebühren mit russischen (oder armenischen) Autokennzeichen. Der Taxifahrer, mit dem ich meinem verpassten Wüstenzug nachjagte, gestand mir kleinlaut, dass er sich seit dem 24. Februar für seine Saratower Nummerntafel schämte: „Aber was soll ich machen?“Auf einer europäischen Restaurant-Terrasse mit Asienblick begriff ich, warum sich auch die USA in Kasachstan relativ geringer Beliebtheit erfreuten – der 1993 unterzeichnete 40-Jahr-Ölvertrag (Chevron hält 50 Prozent am TengizFeld, ExxonMobil 25) hielt das eigentlich stinkreiche Kasachstan relativ arm.
Ich saß zwischen zwei Gesellschaften aus dem Ölbusiness und wurde Zeuge eines ungenierten Herrschaftsdiskurses. Die Zentralasiaten an beiden Tischen, die untereinander Russisch sprachen, spielten die Rolle der Schüler. Sie tauschten sich nur über Privates aus: „Als der Pool aufmachte, rannten alle wie Kids hin; das war so lustig!“Die Lehrer sprachen an dem einen Tisch Arabisch, am anderen Italienisch, Unterrichtssprache war aber Englisch. Ein Araber nannte einen seiner Mitarbeiter „shitty guy“, ein anderer verlautete: „Die Leute entscheiden selbst, was sie wert sind. Heute nichts, aber morgen . . .“Der alte Italiener sagte über Sediment-Probleme: „Wenn wir nicht dort wären, wäre das ein Desaster. Deshalb zahlen wir, wie wir es in Baku tun, einem einzigen Ingenieur 20.000 Dollar.“Als die Temperatur auf 24 fiel, schlüpfte der noch unerfahrene Jung-Italiener in seinen roten Kapuzenanorak und knabberte kichernd an einer roten Karotte.
Von Martin Leidenfrost
Im Flieger nach Abu Dhabi
Am Abend von Tag 3 der russischen Mobilmachung verließ ich Kasachstan. Die Westmedien brachten Nachrichten über fliehende russische Männer, ich hingegen sah am Flughafen Astana mehrere augenscheinlich wehrfähige Russen für den Heimflug nach Nowosibirsk anstehen. „Keine Angst“, wurde ein junger kurzhaariger Russe gefragt, „jetzt nach Russland zurückzukehren?“Er antwortete: „Da gibt’s nichts zu befürchten.“
Im Flieger nach Abu Dhabi saß dagegen ein Einberufungsflüchtling neben mir. Ein sanfter Moskauer Junge, strohgelb gefärbte Haare, knall-bunter Batik-Poncho. Das Boarding lief noch, da wurde er von einem älteren kasachischen Urlauber ausgefragt, der sich blöd stellte und so tat, als wanderte der Junge jobbedingt in die Emirate aus. Der entschuldigte sich, „ich will mir das hier noch ins Gedächtnis einprägen“, und rannte für ein paar Minuten aufs Flugfeld hinaus. Auch wenn er aus Russland stammte, so empfand er Kasachstan, so schien es, doch noch irgendwie als Zuhause.