Wer in Europa einen Eid bricht
Bereits wenige Tage nachdem seiner Frau die Gottesmutter Maria erschienen war, wusste Jaroslaw, dass er sich scheiden lassen musste. Mit dieser Frau, das war ihm klar, konnte ein Mann nicht mehr glücklich werden – und nicht einmal in Polen politische Karriere machen. Aber just der Auslöser für seinen Wunsch, sich endlich scheiden zu lassen, war zugleich das Hindernis: Die ehemals so zynische Frau, die jederzeit zu jedem Agreement bereit gewesen war, wenn es nur ihr Leben in Luxus garantierte, wollte nun, von der Gottesmutter erleuchtet, keine Zustimmung geben, die vor Gott in einem heiligen Sakrament geschlossene Ehe zu trennen.
Adam Prawdower schlug das Buch zu. Wollte er das weiter lesen? Der Roman war Tagesgespräch, ein Schlüsselroman über die politischen Eliten in der Hauptstadt. Ist ein gewisser Abgeordneter schwul und deshalb erpressbar? Es war nicht klar, wer dieser Abgeordnete war, aber jeder hatte seine Vermutung. Ist ein hochrangiger Beamter im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung wirklich korrupt? Leitete er EU-Fördergelder an eigene Firmen weiter, die von Strohmännern für ihn geführt wurden? Wer war damit gemeint? Hat ein Regierungsmitglied – welches? Jeder wusste: Der! Nein: Der! – ein Verhältnis mit einer Parteisekretärin, die plötzlich bei der polnischen Bahn einen hoch dotierten Verwaltungsposten bekommen hatte?
Es war ein Schundroman voll von Verleumdungen, aber unangreifbar, weil die Verleumdeten nicht eindeutig identifizierbar waren, Fiktion, die sehr simpel weit verbreitete Vorurteile bediente, ein Spiel mit Fantasien, das weitergespielt wurde in den sozialen Netzwerken, blubbernden Blasen – wer ist der Politiker, dessen Frau eine Marienerscheinung hatte? Wer ist der schwule Abgeordnete?
Darüber diskutierte ganz Warschau? Über Gerüchte! Adam war fassungslos. Aber niemand sprach über den wirklichen Skandal, der sich doch vor aller Augen abspielte: nämlich den politischen Verrat des Ministerpräsidenten. Die Ideale ihrer Kampfzeit, alle verraten und verkauft. Was sie erkämpft, was sie errungen haben, wird Schritt für Schritt wieder zurückgenommen und zerstört. Aber die Wähler diskutieren, wer der Politiker war, dessen Frau eine Marienerscheinung hatte. Es war deprimierend.
Ogar Polski aus der Hundeboutique
Dorota machte sich Sorgen. Adam war verschlossener und nachdenklicher als sonst. Fürst der Finsternis, sagte sie, aber er lachte nicht. Wann hatte sie ihn das letzte Mal lachen gesehen? Am Samstag vor drei Wochen, als er nach einem langen Spaziergang mit einem Hundewelpen nach Hause kam. Was ist das?
Eine polnische Bracke, Ogar Polski .Du kennst doch diese Hundeboutique Une vie de chien in der Avenue de la Chasse. Ich bin vorbeigekommen, dort sah ich ihn in der Auslage. Er setzte den kleinen Hund auf den Terrassenboden, schubste ihn und lachte. Er lachte, als der Hund umfiel und sich wieder aufraffte.
Dorota war wütend.
Ich bin nur noch drei Monate in Karenz, sagte sie. Und dann?
Der Jagdhund der Könige, sagte er. Er wird euch beschützen.
Euch? Wer ist euch? Unser Sohn und ich? Warum sagst du nicht uns?
Er schubste den Welpen und lachte.
Jetzt hatten sie auch noch einen Hund, der ins Haus pinkelte. Adam kümmerte das nicht, er kam spät von der Arbeit, dann saß er noch lange auf der Terrasse oder in seinem Zimmer, grübelte in seiner typischen Haltung, den Kopf gesenkt, die linke Hand auf sein verstümmeltes Ohr gelegt, oder er las und machte Notizen.
Dorota liebte ihren Mann. Seine distanzierte Art, selbst wenn er „Ich dich auch!“sagte, seine Schwierigkeiten mit unbeschwerter Vertrautheit – das musste sie verstehen. Und sie verstand es, aber manchmal fragte sie sich doch, warum? Warum musste sie das verstehen? Müssen, das ist doch keine Kategorie der Liebe. Aber dann kam wieder ein Moment, wo er Sätze sagte, die ihr das Gefühl gaben, ihrem Mann wieder nähergekommen zu sein, und schon war sie wieder gefangen in der Falle des Verstehens. Dann wieder sein Schweigen. Und was sie nicht verstehen wollte und nie verstehen würde, war sein Hass, in den er seit einiger Zeit geradezu vernarrt war. Er ließ nicht zu, dass er abkühlte, jedes Wort der Vernunft oder der Besänftigung wischte er weg.
„Nein, es ist nicht Hass. Es ist Treue. Wir haben einen Eid geleistet.“– Der Hass vergiftete seine Seele und würde womöglich noch ihre Ehe, wenn nicht gar ihre Existenz zerstören. Dieser ihrer Meinung nach völlig irrationale Hass auf seinen ehemals besten Freund Mateusz, den durch einen Eid in Kindertagen auf ewig mit ihm verbundenen „Blutsbruder“– den heutigen Ministerpräsidenten der Republik Polen.
Dorota fand es verrückt, sinnlos, völlig unnötig, eine Lebensfreundschaft zu zerstören wegen des Vorwurfs eines Verrats, der für sie nicht wirklich nachvollziehbar war. Ist es wirklich ein Verrat, wenn sich zwischen den politischen Idealen der Jugend und dann den Möglichkeiten der Realpolitik eine Differenz ergibt? Ist es wirklich erwiesener Verrat, wenn man einem Jugendfreund, der Karriere gemacht hat, Absichten unterstellt, die nie von ihm geäußert wurden?
„Er hat sie geäußert! Er hat es klipp und klar gesagt!“
„Klipp und klar? Wahlkampfrhetorik!“
Die Rose „Doktor Kurt Waldheim“
Sie hatten doch mit polnischer Innenpolitik nichts zu tun. Sie lebten in Brüssel, in einem komfortablen Haus mit einem schönen Garten nach hinten hinaus, in Merode, Rue d’Oultremont, große Rosenstöcke im Garten, der Verkäufer des Hauses ist besonders stolz auf die Rosen gewesen. Hier: die Rose „Doktor Kurt Waldheim“, benannt nach dem früheren UNO-Generalsekretär, der eine Botschaft an Außerirdische ins Weltall gesendet hat, erinnern Sie sich? Nein? War wohl vor Ihrer Zeit. Hier, diese Rose heißt „Doktor Wolfgang Schüssel“, die habe ich von daheim mitgebracht, aus Niederösterreich, leider sehr anfällig für Läuse, man kann sie zunächst ganz gut behandeln mit Brennnessel-Sud, aber dann braucht man stärkeren Tobak.
Haben alle Ihre Rosen einen Doktortitel? fragte Dorota.
Diese hier nicht, mein absoluter Liebling, die Rose „Wiener Blut“, tiefrote Blüten, keine Dornen. In diese Rosen können Sie sich hineinlegen wie in ein weiches Bett. Also in Blut schwimmen?
Der Verkäufer lachte. Er ließ noch einen Kanister Gift zurück, mit dem man Waldheim, Schüssel und Wiener Blut behandeln musste, „um immer eine Freude mit ihnen zu haben“, und Dorota liebte den Garten, die Rosen, die Waschbeton-Terrasse mit dem Grill, der im Brüsseler Regen verrostete, aber immer noch seinen Dienst tat, wenn Adam die Würste vom Boucher Lanssens mitbrachte, die besten Grillwürste Brüssels. Sie hatten nicht nur das Gefühl, Glück gehabt zu haben und ein gutes Leben zu führen, sondern auch ein sinnvolles Leben, weil sie nicht bloß irgendwelche Jobs hatten, sondern berufliche Aufgaben, mit denen sie sich identifizierten.
Adam arbeitete in der Europäischen Kommission, in der Generaldirektion für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung, wo sie ihn kennengelernt hatte, als sie nach ihrem Jura-Studium in Bologna und ihrem Master-Abschluss in European and Transnational Law an der Universität Göttingen als Trainee nach Brüssel gekommen war. Ihr Vater war Pole, der nach Verhängung des Kriegsrechts in den Westen geflüchtet war, ihre Mutter Italienerin. Dorota war knapp sieben Jahre alt, als der Eiserne Vorhang fiel. Ihre Großeltern in Polen hatte sie
Verrat,
Ist es wirklich wenn sich zwischen den politischen Idealen der Jugend und dann den Möglichkeiten der Realpolitik eine Differenz ergibt? Ein Vorabdruck.
ein paar Mal besucht, zunächst mit ihren Eltern, später auch alleine, sie war Italienerin, fühlte sich allerdings irgendwie auch als „Herkunfts-Polin“, aber polnischer Patriotismus oder Nationalismus waren ihr völlig fremd. Sie erinnerte sich, mit welch großem Befremden sie ihrem Großvater gegenübersaß, als er eine Hasstirade auf „die Deutschen“geradezu spuckte, während sie in Göttingen studierte und einen Kommilitonen liebte, der Hermann hieß. Wie glücklich die Großeltern waren, als sie wenig später Adam heiratete, einen Polen aus einer berühmten Familie. Dass sie das noch erleben konnten.
Söhne von Untergrundkämpfern
Du bist europäischer Beamter! Du spielst keine Rolle mehr in Warschau! Was kümmert dich polnische Innenpolitik?
Innenpolitik? Dorota, bitte, wir bereiten die Balkan-Konferenz in Poznan´ vor. Das ist Europa-Politik. Und Mateusz ist da natürlich der Gastgeber. Wenn du wüsstest, wie oft da interveniert wird. Anrufe, Mails . . . Der Ministerpräsident ruft dich an? Nicht er selbst. Er hat seine Leute. Er dirigiert sie wie eine Armee. Und eine Armee kommt nicht in friedlicher Absicht.
Adams und Mateusz’ Familien waren seit Generationen eng miteinander verbunden. Schon seit dem Januaraufstand von 1863, als die Großväter ihrer Großväter gemeinsam in derselben Partisaneneinheit gegen die Russen gekämpft hatten. So weit gingen die Geschichten zurück, die in ihren Familien erzählt wurden. Dann waren ihre Großväter väterlicherseits im Untergrund, in der Armia Krajowa, der Heimatarmee, im
Kampf gegen die Nazis. Dann die Väter, ab 1981 wieder im Untergrund, im Kampf gegen die Kommunisten, die das Kriegsrecht ausgerufen hatten und die Solidarno´sc´ niederschlugen. Sie bauten die Untergrundarmee Kämpfende Solidarno´sc´ auf, eine Waffenwerkstatt, einen Piratensender, einen Nachrichtendienst.
Die Väter tauchten unter
Von Robert Menasse
Sie wechselten von Versteck zu Versteck, sie organisierten Sabotage-Akte, Sprengstoffanschläge, entführten und töteten Offiziere des Słuz˙ba Bezpieczen´stwa, des polnischen Geheimdiensts, in dessen Kellern gefoltert und gemordet wurde. Die fremden Väter. Adam und Mateusz waren beide dreizehn, als die Väter untertauchten, ihre Mütter sahen ihre Männer danach nur einige wenige Male, in konspirativen Wohnungen oder in einem Waldversteck, in das sie von Mitkämpfern gebracht wurden. Adams Mutter wurde schwanger, ein halbes Jahr später die Mutter von Mateusz. Beide brachten Töchter zur Welt, die wie Schwestern aufwachsen sollten.
Adam und Mateusz aber wurden damals zu den Schulbrüdern in Poznan´ gebracht, das war der beste Schutz für die Söhne der mittlerweile vom SB identifizierten Untergrundkämpfer, ihre Überstellung in das Reich der heiligen römischen Kirche, in das auch der Geheimdienst nicht so einfach Zugriffsmöglichkeiten hatte, ihre Ausbildung zum Priesteramt. Adams jüdischer Vater wurde verschwiegen, Adam war getauft, so stand es in seinen Papieren, das genügte. Und hier begann, von beiden noch lange Zeit unbemerkt, die Entfremdung der beiden jungen Männer, die sich am Ende zu Hass steigern sollte. Aber rückblickend ging alles auf diese Periode zurück.
Als sie vierzehn wurden, sprachen sie den Eid der Kämpfenden Solidarno´sc´ vor einem Vertreter des Untergrunds, den ihre Väter geschickt hatten. Nach einem Segen des Pater Prior wurden sie mit diesem Mann, der sich Konrad nannte, alleine gelassen.
Nicht fürs Priesteramt bestimmt
Mit ihm stiegen sie hinab in die Katakomben der St.-Peter-und-Paul-Kathedrale, zum Sarkophag von Bolesław VI., Herzog von Großpolen. War es Zufall oder wusste Konrad von der jüdischen Herkunft Adams? Boleslav hatte 1264 das Statut von Kalisch erlassen, ein Toleranzpatent, das die Stellung der Juden in Polen definierte und die Grundlage für deren relativ autonome Existenz schuf, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wirkte. Mit dem Statut wurden unter anderem Strafen für die Schändung von jüdischen Friedhöfen und Synagogen angedroht. Das Statut enthielt Vorschriften zur Bestrafung jener, die Juden des Ritualmords beschuldigten. Es regelte die Handelstätigkeit durch die Juden und sicherte ihnen die Unantastbarkeit des Lebens und des Besitzes zu.
Wenn Adam später daran zurückdachte, konnte er nicht glauben, dass es Zufall gewesen sein sollte, dass sie ihren Eid vor den Gebeinen dieses judenfreundlichen Herzogs von Großpolen abgelegt hatten. Die Männer des Untergrunds, die Kämpfer für ein freies Polen, überließen nichts dem Zufall. Wenn sie Waffen einsetzten, dann immer geplant und wohlüberlegt, niemals spontan, und genauso bewusst gingen sie mit Symbolen um, mit den Zeichen, die sie setzten. Diese Gewissheit war für Adam von größter Bedeutung.
Konrad eröffnete ihnen, dass sie natürlich nicht für das Priesteramt bestimmt seien, ihre Berufung sei eine andere. Es war kalt, sehr kalt, und Adam und Mateusz hatten nur ihre weißen Seminaristenhemden an, aber sie glühten in ihrem Wunsch, hier im Untergrund des heiligen Polens in die Armee ihrer Väter aufgenommen zu werden. Sie legten einander die Arme um die Schultern, dann begann die Einschulung und Konrad sprach von – Mädchen.
Geboren 1954 in Wien. Studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und lehrte an der Universität Sa˜o Paulo. Sein Roman „Die Hauptstadt“wurde 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem neuen Roman, „Die Erweiterung“(Suhrkamp), der am 10. Oktober erscheint. (Foto: Apa)