Die Presse

Wer in Europa einen Eid bricht

- ROBERT MENASSE

Bereits wenige Tage nachdem seiner Frau die Gottesmutt­er Maria erschienen war, wusste Jaroslaw, dass er sich scheiden lassen musste. Mit dieser Frau, das war ihm klar, konnte ein Mann nicht mehr glücklich werden – und nicht einmal in Polen politische Karriere machen. Aber just der Auslöser für seinen Wunsch, sich endlich scheiden zu lassen, war zugleich das Hindernis: Die ehemals so zynische Frau, die jederzeit zu jedem Agreement bereit gewesen war, wenn es nur ihr Leben in Luxus garantiert­e, wollte nun, von der Gottesmutt­er erleuchtet, keine Zustimmung geben, die vor Gott in einem heiligen Sakrament geschlosse­ne Ehe zu trennen.

Adam Prawdower schlug das Buch zu. Wollte er das weiter lesen? Der Roman war Tagesgespr­äch, ein Schlüsselr­oman über die politische­n Eliten in der Hauptstadt. Ist ein gewisser Abgeordnet­er schwul und deshalb erpressbar? Es war nicht klar, wer dieser Abgeordnet­e war, aber jeder hatte seine Vermutung. Ist ein hochrangig­er Beamter im Ministeriu­m für wirtschaft­liche Entwicklun­g wirklich korrupt? Leitete er EU-Fördergeld­er an eigene Firmen weiter, die von Strohmänne­rn für ihn geführt wurden? Wer war damit gemeint? Hat ein Regierungs­mitglied – welches? Jeder wusste: Der! Nein: Der! – ein Verhältnis mit einer Parteisekr­etärin, die plötzlich bei der polnischen Bahn einen hoch dotierten Verwaltung­sposten bekommen hatte?

Es war ein Schundroma­n voll von Verleumdun­gen, aber unangreifb­ar, weil die Verleumdet­en nicht eindeutig identifizi­erbar waren, Fiktion, die sehr simpel weit verbreitet­e Vorurteile bediente, ein Spiel mit Fantasien, das weitergesp­ielt wurde in den sozialen Netzwerken, blubbernde­n Blasen – wer ist der Politiker, dessen Frau eine Marienersc­heinung hatte? Wer ist der schwule Abgeordnet­e?

Darüber diskutiert­e ganz Warschau? Über Gerüchte! Adam war fassungslo­s. Aber niemand sprach über den wirklichen Skandal, der sich doch vor aller Augen abspielte: nämlich den politische­n Verrat des Ministerpr­äsidenten. Die Ideale ihrer Kampfzeit, alle verraten und verkauft. Was sie erkämpft, was sie errungen haben, wird Schritt für Schritt wieder zurückgeno­mmen und zerstört. Aber die Wähler diskutiere­n, wer der Politiker war, dessen Frau eine Marienersc­heinung hatte. Es war deprimiere­nd.

Ogar Polski aus der Hundebouti­que

Dorota machte sich Sorgen. Adam war verschloss­ener und nachdenkli­cher als sonst. Fürst der Finsternis, sagte sie, aber er lachte nicht. Wann hatte sie ihn das letzte Mal lachen gesehen? Am Samstag vor drei Wochen, als er nach einem langen Spaziergan­g mit einem Hundewelpe­n nach Hause kam. Was ist das?

Eine polnische Bracke, Ogar Polski .Du kennst doch diese Hundebouti­que Une vie de chien in der Avenue de la Chasse. Ich bin vorbeigeko­mmen, dort sah ich ihn in der Auslage. Er setzte den kleinen Hund auf den Terrassenb­oden, schubste ihn und lachte. Er lachte, als der Hund umfiel und sich wieder aufraffte.

Dorota war wütend.

Ich bin nur noch drei Monate in Karenz, sagte sie. Und dann?

Der Jagdhund der Könige, sagte er. Er wird euch beschützen.

Euch? Wer ist euch? Unser Sohn und ich? Warum sagst du nicht uns?

Er schubste den Welpen und lachte.

Jetzt hatten sie auch noch einen Hund, der ins Haus pinkelte. Adam kümmerte das nicht, er kam spät von der Arbeit, dann saß er noch lange auf der Terrasse oder in seinem Zimmer, grübelte in seiner typischen Haltung, den Kopf gesenkt, die linke Hand auf sein verstümmel­tes Ohr gelegt, oder er las und machte Notizen.

Dorota liebte ihren Mann. Seine distanzier­te Art, selbst wenn er „Ich dich auch!“sagte, seine Schwierigk­eiten mit unbeschwer­ter Vertrauthe­it – das musste sie verstehen. Und sie verstand es, aber manchmal fragte sie sich doch, warum? Warum musste sie das verstehen? Müssen, das ist doch keine Kategorie der Liebe. Aber dann kam wieder ein Moment, wo er Sätze sagte, die ihr das Gefühl gaben, ihrem Mann wieder nähergekom­men zu sein, und schon war sie wieder gefangen in der Falle des Verstehens. Dann wieder sein Schweigen. Und was sie nicht verstehen wollte und nie verstehen würde, war sein Hass, in den er seit einiger Zeit geradezu vernarrt war. Er ließ nicht zu, dass er abkühlte, jedes Wort der Vernunft oder der Besänftigu­ng wischte er weg.

„Nein, es ist nicht Hass. Es ist Treue. Wir haben einen Eid geleistet.“– Der Hass vergiftete seine Seele und würde womöglich noch ihre Ehe, wenn nicht gar ihre Existenz zerstören. Dieser ihrer Meinung nach völlig irrational­e Hass auf seinen ehemals besten Freund Mateusz, den durch einen Eid in Kindertage­n auf ewig mit ihm verbundene­n „Blutsbrude­r“– den heutigen Ministerpr­äsidenten der Republik Polen.

Dorota fand es verrückt, sinnlos, völlig unnötig, eine Lebensfreu­ndschaft zu zerstören wegen des Vorwurfs eines Verrats, der für sie nicht wirklich nachvollzi­ehbar war. Ist es wirklich ein Verrat, wenn sich zwischen den politische­n Idealen der Jugend und dann den Möglichkei­ten der Realpoliti­k eine Differenz ergibt? Ist es wirklich erwiesener Verrat, wenn man einem Jugendfreu­nd, der Karriere gemacht hat, Absichten unterstell­t, die nie von ihm geäußert wurden?

„Er hat sie geäußert! Er hat es klipp und klar gesagt!“

„Klipp und klar? Wahlkampfr­hetorik!“

Die Rose „Doktor Kurt Waldheim“

Sie hatten doch mit polnischer Innenpolit­ik nichts zu tun. Sie lebten in Brüssel, in einem komfortabl­en Haus mit einem schönen Garten nach hinten hinaus, in Merode, Rue d’Oultremont, große Rosenstöck­e im Garten, der Verkäufer des Hauses ist besonders stolz auf die Rosen gewesen. Hier: die Rose „Doktor Kurt Waldheim“, benannt nach dem früheren UNO-Generalsek­retär, der eine Botschaft an Außerirdis­che ins Weltall gesendet hat, erinnern Sie sich? Nein? War wohl vor Ihrer Zeit. Hier, diese Rose heißt „Doktor Wolfgang Schüssel“, die habe ich von daheim mitgebrach­t, aus Niederöste­rreich, leider sehr anfällig für Läuse, man kann sie zunächst ganz gut behandeln mit Brennnesse­l-Sud, aber dann braucht man stärkeren Tobak.

Haben alle Ihre Rosen einen Doktortite­l? fragte Dorota.

Diese hier nicht, mein absoluter Liebling, die Rose „Wiener Blut“, tiefrote Blüten, keine Dornen. In diese Rosen können Sie sich hineinlege­n wie in ein weiches Bett. Also in Blut schwimmen?

Der Verkäufer lachte. Er ließ noch einen Kanister Gift zurück, mit dem man Waldheim, Schüssel und Wiener Blut behandeln musste, „um immer eine Freude mit ihnen zu haben“, und Dorota liebte den Garten, die Rosen, die Waschbeton-Terrasse mit dem Grill, der im Brüsseler Regen verrostete, aber immer noch seinen Dienst tat, wenn Adam die Würste vom Boucher Lanssens mitbrachte, die besten Grillwürst­e Brüssels. Sie hatten nicht nur das Gefühl, Glück gehabt zu haben und ein gutes Leben zu führen, sondern auch ein sinnvolles Leben, weil sie nicht bloß irgendwelc­he Jobs hatten, sondern berufliche Aufgaben, mit denen sie sich identifizi­erten.

Adam arbeitete in der Europäisch­en Kommission, in der Generaldir­ektion für Nachbarsch­aftspoliti­k und Erweiterun­g, wo sie ihn kennengele­rnt hatte, als sie nach ihrem Jura-Studium in Bologna und ihrem Master-Abschluss in European and Transnatio­nal Law an der Universitä­t Göttingen als Trainee nach Brüssel gekommen war. Ihr Vater war Pole, der nach Verhängung des Kriegsrech­ts in den Westen geflüchtet war, ihre Mutter Italieneri­n. Dorota war knapp sieben Jahre alt, als der Eiserne Vorhang fiel. Ihre Großeltern in Polen hatte sie

Verrat,

Ist es wirklich wenn sich zwischen den politische­n Idealen der Jugend und dann den Möglichkei­ten der Realpoliti­k eine Differenz ergibt? Ein Vorabdruck.

ein paar Mal besucht, zunächst mit ihren Eltern, später auch alleine, sie war Italieneri­n, fühlte sich allerdings irgendwie auch als „Herkunfts-Polin“, aber polnischer Patriotism­us oder Nationalis­mus waren ihr völlig fremd. Sie erinnerte sich, mit welch großem Befremden sie ihrem Großvater gegenübers­aß, als er eine Hasstirade auf „die Deutschen“geradezu spuckte, während sie in Göttingen studierte und einen Kommiliton­en liebte, der Hermann hieß. Wie glücklich die Großeltern waren, als sie wenig später Adam heiratete, einen Polen aus einer berühmten Familie. Dass sie das noch erleben konnten.

Söhne von Untergrund­kämpfern

Du bist europäisch­er Beamter! Du spielst keine Rolle mehr in Warschau! Was kümmert dich polnische Innenpolit­ik?

Innenpolit­ik? Dorota, bitte, wir bereiten die Balkan-Konferenz in Poznan´ vor. Das ist Europa-Politik. Und Mateusz ist da natürlich der Gastgeber. Wenn du wüsstest, wie oft da intervenie­rt wird. Anrufe, Mails . . . Der Ministerpr­äsident ruft dich an? Nicht er selbst. Er hat seine Leute. Er dirigiert sie wie eine Armee. Und eine Armee kommt nicht in friedliche­r Absicht.

Adams und Mateusz’ Familien waren seit Generation­en eng miteinande­r verbunden. Schon seit dem Januaraufs­tand von 1863, als die Großväter ihrer Großväter gemeinsam in derselben Partisanen­einheit gegen die Russen gekämpft hatten. So weit gingen die Geschichte­n zurück, die in ihren Familien erzählt wurden. Dann waren ihre Großväter väterliche­rseits im Untergrund, in der Armia Krajowa, der Heimatarme­e, im

Kampf gegen die Nazis. Dann die Väter, ab 1981 wieder im Untergrund, im Kampf gegen die Kommuniste­n, die das Kriegsrech­t ausgerufen hatten und die Solidarno´sc´ niederschl­ugen. Sie bauten die Untergrund­armee Kämpfende Solidarno´sc´ auf, eine Waffenwerk­statt, einen Piratensen­der, einen Nachrichte­ndienst.

Die Väter tauchten unter

Von Robert Menasse

Sie wechselten von Versteck zu Versteck, sie organisier­ten Sabotage-Akte, Sprengstof­fanschläge, entführten und töteten Offiziere des Słuz˙ba Bezpieczen´stwa, des polnischen Geheimdien­sts, in dessen Kellern gefoltert und gemordet wurde. Die fremden Väter. Adam und Mateusz waren beide dreizehn, als die Väter untertauch­ten, ihre Mütter sahen ihre Männer danach nur einige wenige Male, in konspirati­ven Wohnungen oder in einem Waldverste­ck, in das sie von Mitkämpfer­n gebracht wurden. Adams Mutter wurde schwanger, ein halbes Jahr später die Mutter von Mateusz. Beide brachten Töchter zur Welt, die wie Schwestern aufwachsen sollten.

Adam und Mateusz aber wurden damals zu den Schulbrüde­rn in Poznan´ gebracht, das war der beste Schutz für die Söhne der mittlerwei­le vom SB identifizi­erten Untergrund­kämpfer, ihre Überstellu­ng in das Reich der heiligen römischen Kirche, in das auch der Geheimdien­st nicht so einfach Zugriffsmö­glichkeite­n hatte, ihre Ausbildung zum Priesteram­t. Adams jüdischer Vater wurde verschwieg­en, Adam war getauft, so stand es in seinen Papieren, das genügte. Und hier begann, von beiden noch lange Zeit unbemerkt, die Entfremdun­g der beiden jungen Männer, die sich am Ende zu Hass steigern sollte. Aber rückblicke­nd ging alles auf diese Periode zurück.

Als sie vierzehn wurden, sprachen sie den Eid der Kämpfenden Solidarno´sc´ vor einem Vertreter des Untergrund­s, den ihre Väter geschickt hatten. Nach einem Segen des Pater Prior wurden sie mit diesem Mann, der sich Konrad nannte, alleine gelassen.

Nicht fürs Priesteram­t bestimmt

Mit ihm stiegen sie hinab in die Katakomben der St.-Peter-und-Paul-Kathedrale, zum Sarkophag von Bolesław VI., Herzog von Großpolen. War es Zufall oder wusste Konrad von der jüdischen Herkunft Adams? Boleslav hatte 1264 das Statut von Kalisch erlassen, ein Toleranzpa­tent, das die Stellung der Juden in Polen definierte und die Grundlage für deren relativ autonome Existenz schuf, die bis zum Ende des 18. Jahrhunder­ts wirkte. Mit dem Statut wurden unter anderem Strafen für die Schändung von jüdischen Friedhöfen und Synagogen angedroht. Das Statut enthielt Vorschrift­en zur Bestrafung jener, die Juden des Ritualmord­s beschuldig­ten. Es regelte die Handelstät­igkeit durch die Juden und sicherte ihnen die Unantastba­rkeit des Lebens und des Besitzes zu.

Wenn Adam später daran zurückdach­te, konnte er nicht glauben, dass es Zufall gewesen sein sollte, dass sie ihren Eid vor den Gebeinen dieses judenfreun­dlichen Herzogs von Großpolen abgelegt hatten. Die Männer des Untergrund­s, die Kämpfer für ein freies Polen, überließen nichts dem Zufall. Wenn sie Waffen einsetzten, dann immer geplant und wohlüberle­gt, niemals spontan, und genauso bewusst gingen sie mit Symbolen um, mit den Zeichen, die sie setzten. Diese Gewissheit war für Adam von größter Bedeutung.

Konrad eröffnete ihnen, dass sie natürlich nicht für das Priesteram­t bestimmt seien, ihre Berufung sei eine andere. Es war kalt, sehr kalt, und Adam und Mateusz hatten nur ihre weißen Seminarist­enhemden an, aber sie glühten in ihrem Wunsch, hier im Untergrund des heiligen Polens in die Armee ihrer Väter aufgenomme­n zu werden. Sie legten einander die Arme um die Schultern, dann begann die Einschulun­g und Konrad sprach von – Mädchen.

Geboren 1954 in Wien. Studierte Germanisti­k, Philosophi­e und Politikwis­senschaft in Wien, Salzburg und Messina und lehrte an der Universitä­t Sa˜o Paulo. Sein Roman „Die Hauptstadt“wurde 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­net. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem neuen Roman, „Die Erweiterun­g“(Suhrkamp), der am 10. Oktober erscheint. (Foto: Apa)

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[ Foto: Westend61/Getty] Charlemagn­e-Gebäude, Europäisch­e Kommission in Brüssel.

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