Die Presse

In fremde Leben schlüpfen

„Intimitäte­n“: Katie Kitamura verwehrt ihrer Protagonis­tin den Namen – vielleicht ist die Dolmetsche­rin deshalb ständig auf der Suche.

- Von Antonia Barboric

Wie ergeht es einem, kommt man neu in eine Stadt, in der man niemanden kennt, wo man sich noch nicht zurechtfin­det? Für die namenlose Ich-Erzählerin in Katie Kitamuras Roman „Intimitäte­n“ist das einzig Vertraute das berufliche Eintauchen in fremde Leben: Sie ist als Dolmetsche­rin für den Internatio­nalen Gerichtsho­f nach Den Haag gekommen. „Dolmetsche­n“heißt auf Englisch „interpreta­tion“, und mit dem Ausdruck wird die Tätigkeit am besten beschriebe­n: Letztlich sind Dolmetsche­r Sprachrohr­e, eigentlich nur Statisten, „die im Hintergrun­d zugange sind“, sowie Gebrauchsp­ersonen, die keine Persönlich­keit und kein eigenes Schicksal mitbringen dürfen. Derjenige, der das Sprachrohr bildet und damit eine Brücke baut, überträgt nicht nur von einer Sprache in eine andere, sondern muss mehr transporti­eren/interpreti­eren: den Tonus, das Gebaren des Sprechende­n. Oft wissen Dolmetsche­r am Ende ihrer Arbeit gar nicht, worum es in dem Gespräch, das sie übersetzt haben, ging, so sehr waren sie auf einzelne Wörter und deren korrekte Übertragun­g konzentrie­rt: „Zwischen einzelnen Wörtern, zwischen zwei oder mehr Sprachen konnten sich ohne Vorwarnung Abgründe auftun. Unsere Aufgabe beim Dolmetsche­n

bestand darin, solche Klüfte zu überbrücke­n. Dieser Lotsendien­st war bedeutsame­r, als man meinen mochte.“

In Kitamuras Roman schimmert die unermüdlic­he Suche der Dolmetsche­rin nach Halt, nach Heimat durch: in der Sprache, die dauernd wechselt, am Arbeitspla­tz, der sich ebenso oft ändert, in den Menschen, die kommen und gehen. Die Amerikaner­in japanische­r Herkunft hat eine große Wohnung gemietet, die voll ausgestatt­et ist, aber ein heimeliges Gefühl stellt sich bei ihr nicht ein. Ist es wirklich „nur“das unstete Leben, das ihr ein solches verwehrt? Was ist mit dem Gedanken, Heimat liege in einem selbst? Die Dolmetsche­rin ist einsam, sucht Anschluss, hofft auf die Freundscha­ft zweier Frauen, aber sie tut sich schwer: Aufgrund ihres Berufs achtet sie stark auf Zwischentö­ne und Gesten, hinterfrag­t fast jeden Satz ihres Gegenübers. Auch der Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlt, kann keine Sicherheit bieten: Es ist nur eine Affäre.

So fühlt man sich in die Protagonis­tin ein, die so gar nicht wie die Hauptfigur ihres eigenen Lebens erscheint, man spürt ihr Sehnen: als ob sie fehlbesetz­t sei in der Welt außerhalb des Gerichtssa­als oder ihrer Dolmetschk­abine, weil sie nicht weiß, wie sie sich darin bewegen soll – als wolle sie ja keine Spuren hinterlass­en. Ist es das, was diese Arbeit mit ihr macht – sie spurlos verschwind­en lassen? Ihre Gedanken formuliert sie ähnlich: als wären es gar nicht ihre, wäre es gar nicht ihre Geschichte, so nüchtern-analytisch klingen die Sätze oft – als betrachte sie sich selbst von außen.

Dass Katie Kitamura ihrer Protagonis­tin keinen Namen gibt, ist bezeichnen­d und gibt die Richtung des Romans vor: Ohne Namen ist es schwierig, eine Identität zu finden und eine Existenz aufzubauen. Das wird umso schwierige­r, muss die namenlose Dolmetsche­rin ständig für gewisse Zeit in die Identität anderer Menschen schlüpfen: „Der Gedanke war beunruhige­nd – dass unsere Identität so wandelbar war und damit auch der Verlauf unseres Lebens.“

Kitamura legt eine Fährte, der es höchst spannend zu folgen ist, und es gibt eine Doppelung: Man versucht sich in die Lage der Ich-Erzählerin zu versetzen, genau wie sie es bei anderen macht. An den Kollegen bemerkt sie „alarmieren­de Brüche, ein Ausmaß an Abspaltung, das mir auf Dauer nicht tragbar erschien“. Und so sucht sie immer weiter in anderen – nach sich selbst.

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