Ein Opfer der Kunst
Roland Baines, elf Jahre alt, von den Eltern 1959 in ein englisches Internat gesteckt, hat Klavierunterricht. Seine Lehrerin, Miss Miriam Cornell, ist doppelt so alt wie er. Sie üben ein Präludium von Bach. Wenn er Fehler macht, zwickt sie ihn ins Bein. Das klingt doch wie der wohltemperierte Beginn eines erbaulichen Bildungsromans. Doch der Autor des Textes ist Ian McEwan, der seine Karriere vor fünfzig Jahren mit abgründigen, damals auch als pervers empfundenen Storys begann, zuletzt kafkaeske Novellen schrieb und dazwischen eine beachtliche Reihe Bestseller-Romane, die zu den interessantesten seiner Generation gehören. Im Werk dieses Briten ist die heile Welt zumeist Fassade. Also werden beim eben auch auf Deutsch erschienenen Roman „Lektionen“jene Leser:innen recht behalten, die schon im Präludium Arges vermuten; drei Jahre später missbraucht diese Frau den Buben, macht ihn zum Sexsklaven. Sie wird sein Leben ändern.
An Miss Cornell und seine frühe Sucht nach Sex erinnert sich Roland nach einer weiteren einschneidenden Erfahrung. 1986. Nicht nur die Atomkatastrophe von Tschernobyl bedrückt ihn. Seine Frau, Alissa, hat ihn und ihren sieben Monate alten Sohn, Lawrence, verlassen. Er solle nicht versuchen, sie zu finden: „Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“So endet ihre Notiz. Die Behörden schalten sich ein. Der Verdacht: Hat hier jemand seine Frau beseitigt? Ein Tagebucheintrag macht den Ermittler stutzig: „Sie liegt tief begraben; in schlaflosen Nächten aber springt sie aus dem Dunkeln vor.“Immer wieder taucht Polizeiinspektor Browne als komisches Element auf. (Er findet am Ende sogar etwas Entscheidendes heraus.)
Alissa aber hat ihr Familienleben geopfert, um die beste Autorin ihrer Generation zu werden; das hatte sie Roland bereits Jahre zuvor angekündigt, als er bei ihr einen Deutschkurs in London belegte. Sie möchte nicht das Schicksal ihrer Mutter teilen, einer Engländerin, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland aufgebrochen war, um eine Story über den Widerstand der Geschwister Scholl gegen die Nazis zu schreiben. Dabei lernte sie ihren Mann Heinrich Eberhardt kennen, einen aus der SchollGruppe, heiratete ihn und wurde Hausfrau. Ihre Tochter entscheidet sich kompromisslos anders. Als Alissa Eberhardt wird sie „Deutschlands bedeutendste Schriftstellerin. Bedeutender als Grass.“Fast so gut wie Mann. Sie beherzigt, was Henry James zum schicksalhaften Diktum machte: Schriftsteller sind einsam.
Sie und Miriam und eine Reihe dominanter Frauen werden immer wieder auftauchen in diesem Roman, dessen Protagonist sich treiben lässt. Roland ist nicht einsam, sondern umgeben von Freunden im
Ian McEwan
hat seinen bisher längsten, persönlichsten Roman geschrieben. „Lektionen“beginnt in der Nachkriegszeit und reicht bis ins Brexit-England. Liebe, Missbrauch, Verrat beherrschen dieses Bekenntnisbuch.
angeblich toleranten linksliberalen Milieu, das ihm bald zur Patchworkfamilie wird. Nur nostalgisch trauert er dem versäumten Leben nach. Er hatte nach dem Schock der Klavierlehrerin die Schule abgebrochen, er wurde kein Konzertpianist, sondern spielt in Bars. Er wollte Poet sein, doch seine Veröffentlichungen beschränken sich auf ein halbes Dutzend Gedichte. Er gibt Tennisstunden und schreibt als Lohnsklave humorvolle Texte für Postkarten. So lebt er hin. Das hat auch angenehme Seiten. Seine Generation, von Frieden, Freiheit und bescheidendem Wohlstand verwöhnt, schöpfte stets den Rahm ab – das weiß er ganz genau.
Was für einen Antihelden hat McEwan hier also geschaffen? Roland wirkt, als ob er ein Wiedergänger von Iwan Gontscharows passivem Titelhelden Oblomov sei, erzählt mit dem langen Atem des 19. Jahrhunderts, streng lektoriert von Alissa Eberhardt im 21. Wenn eine Figur (zumindest im literarischen Können, das ihr zugeschrieben wird und das Roland trotz aller Verletzungen bewundert) Ähnlichkeiten mit McEwan hat, dann ist es sie. Dagegen wäre es allzu simpel, in diesem wie ein breiter Strom ruhig dahinfließenden Roman deren Ex-Mann als Alter Ego des Autors zu sehen. Ja, McEwans Vater war Offizier auf dem Militärstützpunkt Aldershot, so wie sein Romanheld wuchs auch der Autor einige Jahre in Libyen auf. Ja, er wurde mit elf in ein Internat geschickt, doch er mochte diese Schule, und dort gab es keine sadistische Miss Cornell. Er studierte Literatur. Ja, McEwan hat so wie Roland erst vor zirka zwanzig Jahren erfahren, dass er einen Bruder hat, den die Mutter weggab. Und, ja, schließlich: Als die Ehe mit seiner ersten Frau geschieden wurde, erhielt er das Sorgerecht für seine Kinder. Doch er ist kein gescheiterter Künstler, sondern zählt so wie Alissa im Roman zur ersten Garde der Gegenwartsliteratur. Auf Ähnlichkeiten seines Lebens mit dem des Protagonisten sollte man so reagieren wie Rolands Ex, als er ihr vorwirft, sie habe ihn in ihrem letzten Buch schlecht gezeichnet: „Es ist ein Roman!“
Worauf also kommt es darin an? McEwan hat in dieses voluminöse, bedachte, elegische Alterswerk eine ganze Menge gepackt. Er verknüpft die Weltgeschichte mit dem Weltgericht für das Individuum. Ein wenig belehrend wirkt das. Doch die Suezkrise 1956, die Kubakrise 1962, die neoliberalen 1980er-Jahre, die Wende 1989, der Terror von 2001, der Brexit und die Pandemie – all diese Ereignisse bekommen auch persönliche Noten. Die Generation der Eltern ist wie die seine und der Kinder treffsicher geschildert – eine, die ums Überleben kämpfte, eine, die stets rundum versorgt war, eine, die ihren Weg erst finden muss.
All das fügt sich zum Panorama seiner Gesellschaft. Mit wenigen Strichen vermag McEwan eine Fülle von Figuren zu zeichnen, reflektiert durch einen unauffälligen Charakter – den niemals rasenden Roland. Wenn es tobt in ihm, äußert sich das in britischem Understatement. (Selbst in dieser stilsicheren deutschen Übersetzung können solch sinistre Spitzen nur schwer vermittelt werden.) Ein Mann will Künstler sein. Braucht die Kunst auch ihn? Ein Mann wird älter. Um ihn herum hat das Sterben längst begonnen. Für manches im Leben ist es längst zu spät. Bei all den Rückschlägen, verursacht oft durch reine Egoisten oder bloß durch Passivität, erfährt man, zumindest in der Fiktion, immer wieder Wunderbares: Gemeinschaft. Freundschaft. Mit etwas Glück sogar ein bisschen Liebe.
Lektionen
Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 720 S., geb., € 32,90 (Diogenes)