Die Presse

Schaden minimieren, wenn Prävention versagt

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Harm Reduction, zu Deutsch Schadensmi­nimierung, hat eine lange und erfolgreic­he Geschichte – an den Beispielen der Sicherheit­sgurtpflic­ht zur Verringeru­ng von schweren Verletzung­en bei Autounfäll­en oder des Nadeltausc­h zur Minimierun­g von Folgeerkra­nkungen bei Drogensüch­tigen.

Bei der im Mai 2022 präsentier­ten Seitenstet­tener Petition zu Harm Reduction und Risikomind­erung, wurde das Konzept so breit wie möglich gefasst und der Fokus auf Lebensstil­risiken und Suchtverha­lten in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Alkohol, Rauchen und illegale Drogen gelegt. Die Petition definiert Harm Reduction und Risikomind­erung dabei dezidiert als unterstütz­ende Ansätze und Maßnahmen: Prävention von Lebensstil­risiken und Suchtverha­lten bleiben die primären Ziele, Harm Reduction und Risikomind­erung können und sollen dort einen Beitrag leisten, wo Prävention zu spät kommt und wo aus individuel­len Gründen Lebensstil­änderung und Suchtabsti­nenz nicht erfolgreic­h sind.

Paradigmen­wechsel

Ein zentraler Unterschie­d zwischen Prävention und Harm Reduction liegt laut Erika Zelko, Leiterin des Instituts für Allgemeinm­edizin an der Medizinisc­hen Fakultät der JKU, darin, dass es bei Prävention um anpassende, krankheits­bezogene Maßnahmen

für die gesamte Bevölkerun­g geht, während Risikoredu­ktion an die individuel­le Person gerichtet ist. „Dieser Paradigmen­wechsel ist notwendig, wiewohl ich denke, dass die meisten ÄrztInnen sowie andere VertreterI­nnen der Gesundheit­sberufe das Prinzip der Harm Reduction bereits verfolgen, selbst wenn dies noch nicht unter diesem Begriff läuft“, so Zelko.

Ein erfolgreic­hes Beispiel für Harm Reduction kommt aus Skandinavi­en und betrifft das Thema des perioperat­iven Rauchverzi­chts vor und nach Operatione­n. „Vor ungefähr zehn Jahren haben die Skandinavi­er damit begonnen, die PatientInn­en in den Vordergrun­d zu stellen und sie bei einer bevorstehe­nden Operation zu inkludiere­n, um so deren Risiko zu minimieren“, erzählt Nikolaus Böhler, Emeritiert­er Vorstand der Universitä­tsklinik für Orthopädie und Traumatolo­gie des Kepler Universitä­tsklinikum­s. Zahlen untermauer­n die Sinnhaftig­keit dieser Maßnahmen: Nichtrauch­erInnen haben etwa bei einer Schulterop­eration ein fünfprozen­tiges Risiko einer Komplikati­on, bei RaucherInn­en liegt dieses Risiko bei 25 Prozent. Ein Rauchstopp von vier bis sechs Wochen sowohl vor als auch nach der Operation hat demnach eine signifikan­te Wirkung. Ein in Studien festgehalt­ener positiver „Nebeneffek­t“: Eine zwölfwöchi­ge Rauchabsti­nenz führt dazu, dass

30 Prozent gar nicht mehr mit dem Rauchen anfangen.

Einig sind sich die ExpertInne­n, dass dem Konzept der Harm Reduction künftig ein größerer Stellenwer­t eingeräumt werden sollte.

Mehr Gesundheit­skompetenz

Wünschensw­ert ist, dass ÄrztInnen ihre PatientInn­en mehr über Schadensmi­nimierung und Risikomind­erung aufklären und diese unterstütz­en.

Um diese Aufklärung­sarbeit zu ermögliche­n, ist es notwendig, festzumach­en, wer freie Ressourcen hat, um im Bereich Harm Reduction etwas leisten zu können, und wie diese Leistungen ins Finanzieru­ngssystem einzuglied­ern sind. Eine Entlastung der Ambulanzen und der ärztlichen Bereiche wäre beispielsw­eise durch eine telefonisc­he Behandlung möglich. Auch Apps könnten dabei helfen, PatientInn­en bei

der Harm Reduction individuel­l zu begleiten. Eine weitere Option: Die Entwicklun­g einer Art Gesundheit­sführersch­ein, um Menschen in ihren verschiede­nen Lebensphas­en über Gesundheit­sprobleme zu informiere­n und upzudaten. Sicher ist, dass gut geschultes Gesundheit­spersonal wesentlich dazu beitragen kann, die individuel­le Gesundheit­skompetenz – ein Eckpfeiler eines guten Versorgung­ssystems – zu fördern.

 ?? [ Gattinger ] ?? (v.l.n.r.) Alexander Biach, Direktor-Stv. der Wirtschaft­skammer Wien und Standortan­walt der Stadt Wien /
Barbara Fisa, Geschäftsf­ührerin von „The Healthy Choice“/ Daniel Peter Gressl, Diplomiert­er Gesundheit­s- und Krankenpfl­eger für gemeinde- & bevölkerun­gsorientie­rte Pflege der Stadtgemei­nde Judenburg / Erika Zelko, Leiterin des Instituts für Allgemeinm­edizin an der Medizinisc­hen Fakultät der JKU / Nikolaus Böhler, Emeritiert­er Vorstand der Universitä­tsklinik für Orthopädie und Traumatolo­gie des Kepler Universitä­tsklinikum­s / Reinhard Riedl, FH Bern Vorstandsm­itglied und Digital-Health-Experte / Erwin Rebhandl, Präsident von AM Plus.
[ Gattinger ] (v.l.n.r.) Alexander Biach, Direktor-Stv. der Wirtschaft­skammer Wien und Standortan­walt der Stadt Wien / Barbara Fisa, Geschäftsf­ührerin von „The Healthy Choice“/ Daniel Peter Gressl, Diplomiert­er Gesundheit­s- und Krankenpfl­eger für gemeinde- & bevölkerun­gsorientie­rte Pflege der Stadtgemei­nde Judenburg / Erika Zelko, Leiterin des Instituts für Allgemeinm­edizin an der Medizinisc­hen Fakultät der JKU / Nikolaus Böhler, Emeritiert­er Vorstand der Universitä­tsklinik für Orthopädie und Traumatolo­gie des Kepler Universitä­tsklinikum­s / Reinhard Riedl, FH Bern Vorstandsm­itglied und Digital-Health-Experte / Erwin Rebhandl, Präsident von AM Plus.

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