Die Notwendigkeit einer guten Datengrundlage
Missstand. Der Mangel an ausreichend validen Daten wird in der modernen Gesundenversorgung zunehmend zum Problem. Ohne Diagnosecodierung gibt es laut ExpertInnen keine Weiterentwicklung in der Medizin.
Die Arbeiterkammer hat bei der GÖG (Gesundheit Österreich GmbH) eine Diabetes-Studie in Auftrag gegeben. Auf Basis internationaler Erfolgsmodelle sollen die Voraussetzungen für ein bestmögliches Versorgungsmodell für Diabetes in Österreich mit Blickwinkel auf 2030 erarbeitet werden. Erste Ergebnisse der Studie wurden bei den Prävenire-Gesundheitstagen in Alpbach am 20. August präsentiert. Demnach liegt die geschätzte Prävalenz für Diabetes in Österreich zwischen rund 730.000 und 880.00 Personen (acht bis zehn Prozent der Bevölkerung). Die Zahlen an sich sind keine große Überraschung, auch bisher ging man in Fachkreisen von 500.000 bis 800.000 DiabetikerInnen aus. Der GÖG ist es jedoch – in enger Kooperation mit der ÖGK – gelungen, den Unsicherheitsbereich bei der Zahlenangabe massiv zu verkleinern. Ein wichtiger Erfolg, denn in vielen anderen Bereichen herrscht bezüglich der Datenlage Unklarheit.
Schätzungen statt Wissen
Wie viele Menschen leiden an LongCovid? Wie viele Personen mit Vorerkrankungen, wie etwa Krebs, Herz-Kreislauf-Problemen, Nieren-, Leber- oder Lungenerkrankungen etc., gehören zu den Corona-Risikogruppen? Die pauschale Antwort auf diese und ähnliche Fragen: Man weiß es nicht genau. Präzise Angaben können weder das Ministerium, noch die Sozialversicherung machen. Jene Zahlen, die im Raum stehen, beruhen auf Schätzungen und mehr oder minder übertragbaren Vergleichszahlen aus anderen Ländern. Die Erklärung für den heimischen Datenmissstand: Niedergelassene ÄrztInnen sind in Österreich nicht verpflichtet, die Krankheiten ihrer PatientInnen nach einem einheitlichen System zu erfassen.
Wie problematisch die Unkenntnis der Datenlage im Gesundheitswesen
ist, erklärten Fachleute vor Kurzem anlässlich eines von der Arbeiterkammer durchgeführten Workshops im Rahmen der Praevenire-Gesundheitstage in Alpbach. „Wir sind im Blindflug unterwegs. Wir wissen nicht, wie viele Menschen mit welchen Erkrankungen in Österreich leben. Wir brauchen demnach dringend eine Diagnosecodierung, die eine Conditio sine qua non bei Verhandlungen mit der Ärztekammer über den Leistungskatalog am Ende des Jahres ist“, sagt Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). ÖGK-Chefarzt Andreas Krauter bestätigt: „Wir hatten 2020 große Schwierigkeiten, Risikogruppen für
Covid-19 zu identifizieren. Die einzige Möglichkeit dafür war, auf Medikamentendaten zurückzugreifen, die aber nur einen Bruchteil der Daten darstellen. Auch jetzt bei LongCovid gibt es dasselbe Problem. Eine sehr unbefriedigende Situation.“
Eine ähnliche Lagebeurteilung kommt von Martin Clodi, Präsident der Österreichischen Diabetes Gesellschaft, Erika Zelko, Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Johannes Kepler Universität Linz, oder Helmut Brath von der Diabetes Ambulanz im Gesundheitszentrum Wien-Favoriten. Unisono sprechen die ExpertInnen von der Notwendigkeit einer Diagnosecodierung, sei es zur Erfassung der
Zahl an chronischen Erkrankungen, zu Forschungszwecken in der Allgemeinmedizin oder zur Qualitätssicherung.
„Nur wenn es eine Codierung gibt, kann die Allgemeinmedizin weiterentwickelt werden“, betont der Schweizer Digital-Health-Fachmann Reinhard Riedl, und stellt sich die Frage: „Es wird der europäische Datenraum kommen – will Österreich dann zu den einigen wenigen Ländern gehören, die nichts dazu beitragen können?“Laut Riedl sind Daten ebenfalls notwendig, um eine gewisse Autonomie zu haben und sich in der Wissenschaft nicht auf Informationen aus anderen Ländern verlassen zu müssen.
Auch für die rationale Entscheidungsfindung bei der Problemstellung der Ressourcenverteilung ist eine Codierung notwendig. Die Frage, wie viel Geld für welche Krankheit ausgegeben werden soll, kann sonst nicht vernünftig beantwortet werden.
Lösung in Aussicht
Dass es mit der Datenlage in Österreich so hapert, ist umso verwunderlicher, als dass das Land technisch und organisatorisch längst auf eine flächendeckende und damit verpflichtende Diagnosecodierung vorbereitet ist. Mit der „International Classification of Primary Care, Second edition“, kurz ICPC-2, steht eine internationale, von der WHO anerkannte Klassifizierung zur Verfügung, die speziell für die Primärversorgung und Hausarztmedizin erarbeitet wurde.
Vertreter der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) waren an dem Prozess beteiligt. Auch Erwin Rebhandl, Leiter einer Primärversorgungseinrichtung (PVE) in Oberösterreich, war bereits in den 1990erJahren in einer Arbeitsgruppe zur Einführung der Diagnosecodierung mit ICPC-2 tätig: „Es wurde ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der damals an Bedenken der Ärztekammer gescheitert ist.“Gerald Bachinger, NÖ Patientenanwalt, beschäftigt sich ebenso seit Jahren mit dieser Thematik – und ortet in jüngster Zeit eine Bereitschaft der Ärztekammer, über eine flächendeckende Einführung der Codierung zu diskutieren.
Bei der ÖGAM und der ÖGK will man die Gunst der Stunde nutzen und demnächst mit der Ärztekammer in ernsthafte Verhandlungen zur verpflichtenden Anwendung von ICPC-2 eintreten. Die gemeinsame Forderung: Österreich braucht eine gute Datengrundlage für eine optimale Versorgung.