Antibiotika: Anreize als Innovationstreiber
Interview. Antibiotika sind ein wichtiger Bestandteil der globalen Gesundheitsversorgung, die durch Antimikrobielle Resistenzen (AMR) ernsthaft in Gefahr gerät. Der richtige Einsatz bestehender Produkte und die Entwicklung neuer Antibiotika-Klassen mit ne
Der Aufbau einer starken „Europäischen Gesundheitsunion“ist spätestens seit dem Ausbruch der Coronapandemie ein erklärtes Ziel der Europäischen Kommission. Die EU-Arzneimittelstrategie gilt als Kernstück dieses Vorhabens.
Europäische Strategie
Im Fokus stehen die sichere Versorgung mit leistbaren Arzneimitteln, die Förderung von Innovation – insbesondere in Bereichen mit medizinischen Versorgungslücken – und die Anpassung an neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Technologie.
Im Rahmen der Praevenire-Gipfelgespräche stehen in diesem Zusammenhang vor allem Diskussionen rund um faire und praxisnahe Anreizsysteme zur Attraktivierung von innovativer Forschung und Entwicklung im Vordergrund. Die Fragestellung lautet: Wie können in der Praxis funktionierende Anreizsysteme für jene Indikationen gestaltet werden, für die es trotz steigender Notwendigkeit keine herkömmlichen Business Cases gibt? Das gilt beispielsweise für Arzneimittel für Seltene Erkrankungen, Kinderarzneimittel und auch für die Entwicklung neuer Antibiotika-Produkte, die gegen Antimikrobielle Resistenzen (AMR) wirksam sind. Wie ernst die Problematik ist, zeigen Zahlen aus jüngsten Studien auf.
Bis zu zehn Millionen Menschen, so die Schätzung, werden im Jahr 2050 weltweit aufgrund von Antibiotikaresistenz versterben. Die Größenordnung wird anhand von zwei beispielhaften Vergleichen deutlich: bei Krebs werden für 2050 rund acht Millionen Sterbefälle prognostiziert, im Straßenverkehr etwa eine Million. „Die Ende der 1960erJahre postulierte Expertenmeinung, dass die Menschheit den Krieg gegen Infektionen gewonnen hat, erweist sich aus heutiger Sicht als Trugschluss. Wir haben in Wahrheit ein großes Problem, namentlich mit den sogenannten multiresistenten gramnegativen Bakterien“, erklärt Florian Thalhammer, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin.
MRGN-Bakterien ist eine Sammelbezeichnung für eine große Gruppe von Bakterien, die eines gemeinsam haben: Sie sind resistent, das heißt unempfindlich, gegen häufig eingesetzte Antibiotika.
Ursachen der Resistenzen
Resistenzen entstehen vor allem, wenn Antibiotika nicht richtig eingesetzt werden, sprich zu häufig, zu kurz oder zu niedrig dosiert. Bezüglich der richtigen Anwendung herrscht leider ein weit verbreitetes Unwissen.
Was viele Menschen zum Beispiel nicht wissen: Antibiotika wirken nicht gegen Erkrankungen, die durch Viren verursacht werden. Viren sind Auslöser für die meisten Erkältungen. Daher helfen Antibiotika bei Erkältungen oder akuter Bronchitis nicht“, so Thalhammer. Um Resistenzen zu vermeiden brauche es demnach adäquate Verordnungen und das Vermeiden sinnloser Antiinfektivagaben. Thalhammer skizziert weitere Problemfelder: „Nischenkeime werden leider vergessen und die werden resistenter. Im Zuge globaler Massenbewegungen werden multiresistente Erreger eingeschleppt, nicht erkannt oder falsch behandelt. Gerne greift man zudem einfach auf billige Arzneimittel zurück. Niedrige Kosten führen aber à la longue zu einer hohen Resistenzrate.“
Neue Antibiotika
„Wir brauchen mehr Antibiotic Stewardship“, sagt Thalhammer und meint damit den rationalen und verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika – durch den Nachweis einer (bakteriellen) Infektion, die Wahl des geeigneten Antibiotikums sowie die Anpassung der Therapiedauer, Dosierung und Form der Antibiotika-Gabe. Ziel ist, die Patienten bestmöglich zu behandeln und gleichzeitig zu verhindern, dass Selektionsprozesse und Resistenzen bei den Bakterien auftreten.
Was es laut Thalhammer in diesem Zusammenhang benötigt, ist die Entwicklung neuer AntibiotikaKlassen mit neuen Wirkmechanismen. Ein Blick auf die jüngste Geschichte macht allerdings skeptisch. So wurden zwischen 1935 und 2003 vierzehn neue Klassen von Antibiotika eingeführt, während seit 1998 nur noch zehn neue Antibiotika zugelassen wurden. Nur zwei davon stellen eine neue Klasse dar und haben ein neues Wirkungsziel. Der wahrscheinliche Grund dafür ist laut GesundheitsexpertInnen, dass die Entwicklung von Antibiotika riskant, teuer und weniger profitabel ist als etwa die von Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten.
Anreizsysteme für Forschung
Tatsache ist, dass die pharmazeutische Forschung vor großen Herausforderungen steht. „Nur eine von 10.000 Substanzen ist erfolgreich und erreicht die Marktreife, zehn bis 15 Jahre müssen in der Regel für die Entwicklung neuer Arzneimittel veranschlagt werden und die Kosten belaufen sich pro neuem Produkt im Schnitt auf mehr als zwei Milliarden Euro“, nennt Alexander Herzog, Generalsekretär der PHARMIG – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs, konkrete Zahlen. Die Industrie stehe immer wieder vor dem Dilemma, medizinische Felder zu beforschen, die rein ökonomisch – etwa aufgrund hoher Forschungsund Entwicklungskosten bei einer zugleich relativ geringen Patientenzahl – wenig attraktiv sind.
Umso bedeutender seien effektive Anreizsysteme, um die Unternehmen der Pharmaindustrie für ihre Forschungstätigkeit zu motivieren. Bei PHARMIG spricht man von der Notwendigkeit, neue Wege zu denken und zu gehen. Eine Möglichkeit wäre in Hochrisikobereichen die Schaffung eines speziellen Fördertopfs. Die EU würde die Produktion bestellen und mit der Industrie einen fairen Preis verhandeln, der eine Kaufkraftanpassung je nach EU-Land berücksichtigt.
Intensiv diskutiert wird auch der Vorschlag einer übertragbaren Exklusivitätserweiterung (TEE – transferable exclusivity extension), um die Forschung und Entwicklung von neuen Antibiotika zu incentivieren. Hilfreich sind laut ExpertInnen zudem Investitionsprogramme der Industrie für neue Antibiotika. Anfang April 2022 berichtete der AMR Action Fund von ersten Investitionen in Unternehmen, die antibakterielle Medikamente entwickeln. Der vom Internationalen Pharmaverband IFPMA und zahlreichen Pharmaunternehmen und weiteren Akteuren gegründete Fund verfolgt das Ziel, bis 2030 zwei bis vier zusätzliche Antibiotika gegen multiresistente Problemkeime zur Marktreife zu bringen, deren Entwicklung sonst durch Finanzierungsprobleme gefährdet wäre.
Den Blickwinkel der Pharmaindustrie bringt auch Sigrid Haslinger, Director Market Access und Commercial Operations beim Arzneimittelhersteller MSD, ein: „Es braucht die Vielfalt. Je mehr Firmen in diesem Bereich tätig sind, umso mehr können Wettbewerb und Druck zu neuen Entwicklungen führen. Das kann man zwar nur auf gesamteuropäischer Ebene erzeugen, aber es ist gut, wenn wir in Österreich darüber nachdenken, wie wir den Stein ins Rollen bekommen.“
„Die Anreizsysteme müssen auf jeden Fall flexibler werden, eine ,One-size-fits-all‘-Lösung hat sich nicht als bester gangbarer Weg herausgestellt. Man muss hier individueller gestalten“, sagt dazu Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin der AGES Medizinmarktaufsicht und Mitglied des Management Boards der Europäischen Arzneimittelagentur, EMA, und betont zugleich die eminente Bedeutung der Grundlagenforschung: „Sie ist die Basis für industrielle Weiterentwicklung, also für neue Produkte mit neuen Wirkmechanismen.“
Innovationskultur
Einig sind sich alle Fachleute, dass dem Schlagwort Innovation größte Bedeutung zukommt – und dass der Weg zur Innovation nicht immer einfach ist. „Man erkennt ja nicht sofort, ob man mit einer Neuentwicklung richtig unterwegs ist. Erfolg ist ein Ergebnis von Unwegbarkeiten und der Blick auf die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass beim Einsatz diverser Anreizsysteme nicht immer das entsteht, was am Anfang intendiert war“, gibt Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich, zu bedenken. Wissenschaftliche Prozesse seien dadurch gekennzeichnet, dass sich ForscherInnen
in ein Thema intensiv vertiefen und dann schauen, ob es funktioniert. Rückschritte und Fehlschläge gehören ebenso zu diesem Prozess wie Fortschritte. „Fest steht zugleich, dass auf dem Weg zu Innovationen im Zusammenspiel von Forschung und Produktion enorme Kraft liegt. Gezeigt hat sich das gerade in der Pandemie“, so Ostermann.
Den Stellenwert einer Kultur des Scheiterns im Rahmen innovativer Prozesse hebt auch Martin Schaffenrath, Verwaltungsrat der ÖGK, hervor: „Wir müssen akzeptieren, dass wir manchmal viel Geld in die Hand zu nehmen haben, ohne dafür eine Erfolgsgarantie zu bekommen.“Die Entwicklung neuer Arzneimittel sei nun mal ebenso kostenintensiv wie risikobehaftet. Dass am Ende Innovatives entstehen kann, wenn alle Akteure an einem Strang ziehen, habe die Impfstoffentwicklung im Zuge der Pandemie deutlich gemacht.
Global an einem Strang ziehen
„Die Qualität ums Eck zu denken und die Erkenntnis, neue Wege auch im Eilschritt gehen zu können, sollten wir aus den letzten Jahren mitnehmen“, schließt sich PHARMIG Generalsekretär Herzog diesem Gedanken an und richtet einen „flammenden Appell“an alle VerantwortungsträgerInnen, sich dem Thema Pharmainnovation auf EU-Ebene stärker denn je zu widmen. Dass dabei auch der extramurale Bereich mitgedacht werden muss, betont Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer: „Gut ist es zugleich, wenn im Sinne der Optimierung kompetente SpezialistInnen wie etwa InfektiologInnen den Lead übernehmen und die Richtung mit wissenschaftlichem Knowhow vorgeben.“
Die Notwendigkeit der gemeinsamen Anstrengung aller Player des Gesundheitswesens aus Universitäten, Industrie und Behörden hebt auch Wirthumer-Hoche hervor: „Wenn wir global zusammenarbeiten – sei es bei innovativen Arzneimittelentwicklungen, der Schaffung neuer Anreizsysteme für die Forschung oder behördlichen Maßnahmen bei der Infektionsbekämpfung –, dann wird die Kraftanstrengung Erfolg haben.“