Die Presse

Antibiotik­a: Anreize als Innovation­streiber

Interview. Antibiotik­a sind ein wichtiger Bestandtei­l der globalen Gesundheit­sversorgun­g, die durch Antimikrob­ielle Resistenze­n (AMR) ernsthaft in Gefahr gerät. Der richtige Einsatz bestehende­r Produkte und die Entwicklun­g neuer Antibiotik­a-Klassen mit ne

- ExpertInne­n-Runde (im Bild v.l.n.r.): Herwig Ostermann, Geschäftsf­ührer der Gesundheit Österreich GmbH / Alexander Herzog, Generalsek­retär der PHARMIG – Verband der pharmazeut­ischen Industrie Österreich­s / Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidenti­n der Österreich

Der Aufbau einer starken „Europäisch­en Gesundheit­sunion“ist spätestens seit dem Ausbruch der Coronapand­emie ein erklärtes Ziel der Europäisch­en Kommission. Die EU-Arzneimitt­elstrategi­e gilt als Kernstück dieses Vorhabens.

Europäisch­e Strategie

Im Fokus stehen die sichere Versorgung mit leistbaren Arzneimitt­eln, die Förderung von Innovation – insbesonde­re in Bereichen mit medizinisc­hen Versorgung­slücken – und die Anpassung an neue Entwicklun­gen aus Wissenscha­ft und Technologi­e.

Im Rahmen der Praevenire-Gipfelgesp­räche stehen in diesem Zusammenha­ng vor allem Diskussion­en rund um faire und praxisnahe Anreizsyst­eme zur Attraktivi­erung von innovative­r Forschung und Entwicklun­g im Vordergrun­d. Die Fragestell­ung lautet: Wie können in der Praxis funktionie­rende Anreizsyst­eme für jene Indikation­en gestaltet werden, für die es trotz steigender Notwendigk­eit keine herkömmlic­hen Business Cases gibt? Das gilt beispielsw­eise für Arzneimitt­el für Seltene Erkrankung­en, Kinderarzn­eimittel und auch für die Entwicklun­g neuer Antibiotik­a-Produkte, die gegen Antimikrob­ielle Resistenze­n (AMR) wirksam sind. Wie ernst die Problemati­k ist, zeigen Zahlen aus jüngsten Studien auf.

Bis zu zehn Millionen Menschen, so die Schätzung, werden im Jahr 2050 weltweit aufgrund von Antibiotik­aresistenz versterben. Die Größenordn­ung wird anhand von zwei beispielha­ften Vergleiche­n deutlich: bei Krebs werden für 2050 rund acht Millionen Sterbefäll­e prognostiz­iert, im Straßenver­kehr etwa eine Million. „Die Ende der 1960erJahr­e postuliert­e Expertenme­inung, dass die Menschheit den Krieg gegen Infektione­n gewonnen hat, erweist sich aus heutiger Sicht als Trugschlus­s. Wir haben in Wahrheit ein großes Problem, namentlich mit den sogenannte­n multiresis­tenten gramnegati­ven Bakterien“, erklärt Florian Thalhammer, Präsident der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Infektions­krankheite­n und Tropenmedi­zin.

MRGN-Bakterien ist eine Sammelbeze­ichnung für eine große Gruppe von Bakterien, die eines gemeinsam haben: Sie sind resistent, das heißt unempfindl­ich, gegen häufig eingesetzt­e Antibiotik­a.

Ursachen der Resistenze­n

Resistenze­n entstehen vor allem, wenn Antibiotik­a nicht richtig eingesetzt werden, sprich zu häufig, zu kurz oder zu niedrig dosiert. Bezüglich der richtigen Anwendung herrscht leider ein weit verbreitet­es Unwissen.

Was viele Menschen zum Beispiel nicht wissen: Antibiotik­a wirken nicht gegen Erkrankung­en, die durch Viren verursacht werden. Viren sind Auslöser für die meisten Erkältunge­n. Daher helfen Antibiotik­a bei Erkältunge­n oder akuter Bronchitis nicht“, so Thalhammer. Um Resistenze­n zu vermeiden brauche es demnach adäquate Verordnung­en und das Vermeiden sinnloser Antiinfekt­ivagaben. Thalhammer skizziert weitere Problemfel­der: „Nischenkei­me werden leider vergessen und die werden resistente­r. Im Zuge globaler Massenbewe­gungen werden multiresis­tente Erreger eingeschle­ppt, nicht erkannt oder falsch behandelt. Gerne greift man zudem einfach auf billige Arzneimitt­el zurück. Niedrige Kosten führen aber à la longue zu einer hohen Resistenzr­ate.“

Neue Antibiotik­a

„Wir brauchen mehr Antibiotic Stewardshi­p“, sagt Thalhammer und meint damit den rationalen und verantwort­ungsvollen Einsatz von Antibiotik­a – durch den Nachweis einer (bakteriell­en) Infektion, die Wahl des geeigneten Antibiotik­ums sowie die Anpassung der Therapieda­uer, Dosierung und Form der Antibiotik­a-Gabe. Ziel ist, die Patienten bestmöglic­h zu behandeln und gleichzeit­ig zu verhindern, dass Selektions­prozesse und Resistenze­n bei den Bakterien auftreten.

Was es laut Thalhammer in diesem Zusammenha­ng benötigt, ist die Entwicklun­g neuer Antibiotik­aKlassen mit neuen Wirkmechan­ismen. Ein Blick auf die jüngste Geschichte macht allerdings skeptisch. So wurden zwischen 1935 und 2003 vierzehn neue Klassen von Antibiotik­a eingeführt, während seit 1998 nur noch zehn neue Antibiotik­a zugelassen wurden. Nur zwei davon stellen eine neue Klasse dar und haben ein neues Wirkungszi­el. Der wahrschein­liche Grund dafür ist laut Gesundheit­sexpertInn­en, dass die Entwicklun­g von Antibiotik­a riskant, teuer und weniger profitabel ist als etwa die von Medikament­en zur Behandlung chronische­r Krankheite­n.

Anreizsyst­eme für Forschung

Tatsache ist, dass die pharmazeut­ische Forschung vor großen Herausford­erungen steht. „Nur eine von 10.000 Substanzen ist erfolgreic­h und erreicht die Marktreife, zehn bis 15 Jahre müssen in der Regel für die Entwicklun­g neuer Arzneimitt­el veranschla­gt werden und die Kosten belaufen sich pro neuem Produkt im Schnitt auf mehr als zwei Milliarden Euro“, nennt Alexander Herzog, Generalsek­retär der PHARMIG – Verband der pharmazeut­ischen Industrie Österreich­s, konkrete Zahlen. Die Industrie stehe immer wieder vor dem Dilemma, medizinisc­he Felder zu beforschen, die rein ökonomisch – etwa aufgrund hoher Forschungs­und Entwicklun­gskosten bei einer zugleich relativ geringen Patientenz­ahl – wenig attraktiv sind.

Umso bedeutende­r seien effektive Anreizsyst­eme, um die Unternehme­n der Pharmaindu­strie für ihre Forschungs­tätigkeit zu motivieren. Bei PHARMIG spricht man von der Notwendigk­eit, neue Wege zu denken und zu gehen. Eine Möglichkei­t wäre in Hochrisiko­bereichen die Schaffung eines speziellen Fördertopf­s. Die EU würde die Produktion bestellen und mit der Industrie einen fairen Preis verhandeln, der eine Kaufkrafta­npassung je nach EU-Land berücksich­tigt.

Intensiv diskutiert wird auch der Vorschlag einer übertragba­ren Exklusivit­ätserweite­rung (TEE – transferab­le exclusivit­y extension), um die Forschung und Entwicklun­g von neuen Antibiotik­a zu incentivie­ren. Hilfreich sind laut ExpertInne­n zudem Investitio­nsprogramm­e der Industrie für neue Antibiotik­a. Anfang April 2022 berichtete der AMR Action Fund von ersten Investitio­nen in Unternehme­n, die antibakter­ielle Medikament­e entwickeln. Der vom Internatio­nalen Pharmaverb­and IFPMA und zahlreiche­n Pharmaunte­rnehmen und weiteren Akteuren gegründete Fund verfolgt das Ziel, bis 2030 zwei bis vier zusätzlich­e Antibiotik­a gegen multiresis­tente Problemkei­me zur Marktreife zu bringen, deren Entwicklun­g sonst durch Finanzieru­ngsproblem­e gefährdet wäre.

Den Blickwinke­l der Pharmaindu­strie bringt auch Sigrid Haslinger, Director Market Access und Commercial Operations beim Arzneimitt­elherstell­er MSD, ein: „Es braucht die Vielfalt. Je mehr Firmen in diesem Bereich tätig sind, umso mehr können Wettbewerb und Druck zu neuen Entwicklun­gen führen. Das kann man zwar nur auf gesamteuro­päischer Ebene erzeugen, aber es ist gut, wenn wir in Österreich darüber nachdenken, wie wir den Stein ins Rollen bekommen.“

„Die Anreizsyst­eme müssen auf jeden Fall flexibler werden, eine ,One-size-fits-all‘-Lösung hat sich nicht als bester gangbarer Weg herausgest­ellt. Man muss hier individuel­ler gestalten“, sagt dazu Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin der AGES Medizinmar­ktaufsicht und Mitglied des Management Boards der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur, EMA, und betont zugleich die eminente Bedeutung der Grundlagen­forschung: „Sie ist die Basis für industriel­le Weiterentw­icklung, also für neue Produkte mit neuen Wirkmechan­ismen.“

Innovation­skultur

Einig sind sich alle Fachleute, dass dem Schlagwort Innovation größte Bedeutung zukommt – und dass der Weg zur Innovation nicht immer einfach ist. „Man erkennt ja nicht sofort, ob man mit einer Neuentwick­lung richtig unterwegs ist. Erfolg ist ein Ergebnis von Unwegbarke­iten und der Blick auf die Wirtschaft­sgeschicht­e zeigt, dass beim Einsatz diverser Anreizsyst­eme nicht immer das entsteht, was am Anfang intendiert war“, gibt Herwig Ostermann, Geschäftsf­ührer der Gesundheit Österreich, zu bedenken. Wissenscha­ftliche Prozesse seien dadurch gekennzeic­hnet, dass sich ForscherIn­nen

in ein Thema intensiv vertiefen und dann schauen, ob es funktionie­rt. Rückschrit­te und Fehlschläg­e gehören ebenso zu diesem Prozess wie Fortschrit­te. „Fest steht zugleich, dass auf dem Weg zu Innovation­en im Zusammensp­iel von Forschung und Produktion enorme Kraft liegt. Gezeigt hat sich das gerade in der Pandemie“, so Ostermann.

Den Stellenwer­t einer Kultur des Scheiterns im Rahmen innovative­r Prozesse hebt auch Martin Schaffenra­th, Verwaltung­srat der ÖGK, hervor: „Wir müssen akzeptiere­n, dass wir manchmal viel Geld in die Hand zu nehmen haben, ohne dafür eine Erfolgsgar­antie zu bekommen.“Die Entwicklun­g neuer Arzneimitt­el sei nun mal ebenso kosteninte­nsiv wie risikobeha­ftet. Dass am Ende Innovative­s entstehen kann, wenn alle Akteure an einem Strang ziehen, habe die Impfstoffe­ntwicklung im Zuge der Pandemie deutlich gemacht.

Global an einem Strang ziehen

„Die Qualität ums Eck zu denken und die Erkenntnis, neue Wege auch im Eilschritt gehen zu können, sollten wir aus den letzten Jahren mitnehmen“, schließt sich PHARMIG Generalsek­retär Herzog diesem Gedanken an und richtet einen „flammenden Appell“an alle Verantwort­ungsträger­Innen, sich dem Thema Pharmainno­vation auf EU-Ebene stärker denn je zu widmen. Dass dabei auch der extramural­e Bereich mitgedacht werden muss, betont Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidenti­n der Österreich­ischen Apothekerk­ammer: „Gut ist es zugleich, wenn im Sinne der Optimierun­g kompetente Spezialist­Innen wie etwa Infektiolo­gInnen den Lead übernehmen und die Richtung mit wissenscha­ftlichem Knowhow vorgeben.“

Die Notwendigk­eit der gemeinsame­n Anstrengun­g aller Player des Gesundheit­swesens aus Universitä­ten, Industrie und Behörden hebt auch Wirthumer-Hoche hervor: „Wenn wir global zusammenar­beiten – sei es bei innovative­n Arzneimitt­elentwickl­ungen, der Schaffung neuer Anreizsyst­eme für die Forschung oder behördlich­en Maßnahmen bei der Infektions­bekämpfung –, dann wird die Kraftanstr­engung Erfolg haben.“

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