Memorandum: Das Triple-V der Zukunft
Interview.
Wie viel ist genug? Diese Frage an AK-NÖ-Präsident Markus Wieser ist Ausgangspunkt, um Zukunftsthemen für die Menschen in Niederösterreich und darüber hinaus in den Vordergrund zu rücken. Die zentralen Themen: Veränderung der Arbeitswelt, Verteilungsgerechtigkeit und Versorgungssicherheit.
AFAST 4 MILLIONEN BESCHÄFTIGTE IN ÖSTERREICH SIND: WERTSCHÖPFUNGSTRÄGER – WIRTSCHAFTSTRÄGER – VERANTWORTUNGSTRÄGER ntworten auf entscheidende Zukunftsfragen sind selten trivial und nachhaltige Problemlösungen erfordern oftmals grundlegende Veränderungen im Denken und Handeln. „Politische Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger sollten damit aufhören, neue Zahlen, neue Vorschläge oder neue Maßnahmen zu präsentieren, die nicht einmal kurzfristig sinnvolle Lösungen beinhalten oder gar nachhaltig echte Verbesserung schaffen“, sagt Markus Wieser, Präsident der Arbeiterkammer Niederösterreich und Vorsitzender des ÖGB Niederösterreich.
Der Interessensvertreter tritt dafür ein, mehr hinzuhören, hinzusehen und darüber zu sprechen, damit für konkrete Herausforderungen auch rasch umsetzbare Lösungen gefunden werden können.
Sie suchen Lösungen rund um die Bereiche Veränderung der Arbeitswelt, Verteilungsgerechtigkeit und Versorgungssicherheit. Warum stellen Sie gerade diese Themen in den Fokus?
Weil das genau die drängendsten Themen für die arbeitenden Menschen in Österreich sind, also für knapp vier Millionen Leistungsträgerinnen und Leistungsträger im Land. Diese Menschen sichern die Wertschöpfung in der Wirtschaft, tragen als Konsumentinnen und Konsumenten im hohen Ausmaß zu Wachstum und Wohlstand bei und sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft funktioniert.
Als Arbeiterkammer und ÖGB sind wir die starke Stimme der arbeitenden Menschen in Österreich. Wir sind gefordert, möglichst vorausschauend und vorausdenkend mit passenden Konzepten Antworten zu finden. Und die Zeit drängt. Deshalb haben wir in einem sogenannten „3V-Memorandum“das Resultat eines breiten Diskurses und Dialoges zusammengefasst. Es geht insbesondere um die faire Verteilung von Arbeit und Einkommen, eine effektivere Verhinderung von Lohn- und Sozialdumping, mehr öffentliche Gesundheitsprogramme für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie den Kampf gegen Steuersümpfe.
Wie kam dieser Prozess in Gang?
Der Ausgangspunkt war ein gemeinsamer Besuch der Sozialpartner in Brüssel, bei dem die Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stand. Einzelne Aspekte, wie E-Mobilität, Energieeffizienz oder Ressourcenschonung, wurden diskutiert. Das sind wichtige Fragen, aber es wurde uns rasch klar, dass wir in größeren Dimensionen denken müssen, das heißt in gesamten Lebenszyklen – von der Gewinnung von Rohstoffen über die Produktionsprozesse bis hin zum Recycling.
All diese Themen machen zudem nicht an den Grenzen Europas halt. Staaten, die ihre Produkte hierher exportieren wollen, sollen sich an die gleichen hohen Umweltstandards halten müssen wie europäische Betriebe. Das führt auch zur Frage der fairen Verteilung von Arbeit und Einkommen.
Wer war an der Erarbeitung der Inhalte und Lösungsvorschläge beteiligt?
Den Lösungsvorschlägen liegt ein breiter Dialog und Diskussionsprozess zugrunde, der schon vor der Pandemie in Gang gesetzt wurde. Der Expertise der Fachleute der Arbeiterkammer Niederösterreich wurde ein eigens eingerichteter interdisziplinärer Beirat unter Koordination von Prof. Helmut Detter hinzugefügt. Prof. Detter ist Experte für Arbeitswelten mit dem Fokus auf die Integration neuer Technologien und Fachbeirat des Projektfonds Arbeit 4.0 der AK NÖ. Dem Beirat gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen an.
Wir haben zudem Kammerrätinnen und Kammerräte, Betriebsrätinnen und Betriebsräte, Sozialpartner, Vertreterinnen und Vertreter der Industrie, regionale Verantwortungsträgerinnen und –träger, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie regionale Versorger an diesem Prozess beteiligt.
Das Memorandum ist die Zusammenfassung von vielen Tausend Seiten an Expertise. Besonders wichtig ist mir, dass die Ergebnisse verständlich aufbereitet sind.
Kommen wir zu den drei Themenschwerpunkten im Detail. Welche konkreten Veränderungen der Arbeitswelt werden angesprochen?
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in Österreich um 120 Millionen gesunken. Gleichzeitig ist die Zahl der Beschäftigten um 350.000 gestiegen. Wenn man die Arbeit nicht fairer verteilt, dann wird künftig nicht mehr jede/jeder eine Beschäftigung finden. Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung haben die
Arbeitswelt bereits massiv verändert. Die Rationalisierung und Kostenoptimierung von Produktionsund Innovationsprozessen schafft höhere Gewinne, tut dies aber zulasten der Erwerbsbevölkerung.
Arbeit wird heute wesentlich produktiver, orts- und zeitunabhängiger vollzogen als vor wenigen Jahren. Dazu kommt, dass sich durch die Pandemie auch die individuellen Vorstellungen von Arbeit verändert haben. Menschen wollen verstärkt ins Home-Office und legen größeren Wert auf ihre Work-Life-Balance. Gleichzeitig steigt die Belastung der Menschen im Arbeitsleben ständig an. Die Arbeitsverdichtung im Beruf, Just-in-Time-Lieferungen, die Entgrenzung von Beruf und Freizeit sind nur einige Beispiele.
Warum braucht es eine neue Verteilungsgerechtigkeit?
Mit der angesprochenen Entwicklung hat sich die Wertschöpfung verschoben. Vor etwa 70 Jahren wurde rund 90 Prozent der gesamten Arbeit aus menschlicher Arbeitskraft geleistet. Heute werden rund 40 Prozent der Wertschöpfung von Maschinen, Computern oder KI übernommen. In diesen 70 Jahren hat sich aber nichts daran geändert, dass alle Steuern und Abgaben auf dem Faktor Arbeit und auf den Schultern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lasten bleiben. Sozialausgaben werden überwiegend so finanziert wie vor Jahrzehnten: über Sozialversicherungsbeiträge. In immer mehr Betrieben werden zunehmend aber jene produktiv, die gar keine Sozialabgaben zahlen – Roboter, Maschinen und automatische Steuerungstechniken.
Es ist daher dringend notwendig, Überlegungen anzustellen, wie diese Last umverteilt wird. Wenn man nur drei oder vier Prozent dieser Wertschöpfung in Gesundheit, Bildung oder Pflege investieren würde, wäre das eine zukunftsträchtige Lösung.
Welche Rolle spielt die Versorgungssicherheit in der Gesellschaft?
Seit Jahrzehnten werden Wirtschaftsbereiche aus Kostengründen in Niedriglohnländer verlagert. Wie trügerisch die Vorteile sind, hat die Coronakrise deutlich gezeigt. Wichtige Güter wie Schutzausrüstung und Medikamente sind über Nacht nicht mehr verfügbar gewesen. Wir brauchen Krisenpläne, damit wir bei Energie, Wasser oder Grundnahrungsmitteln nicht in die gleiche Situation kommen. Die Lieferketten müssen kürzer werden, das schafft Sicherheit und ist auch gut für die Umwelt.
Daher fordern wir in unserem Memorandum Bedingungen, die unter anderem die Produktion wichtiger Güter zurück nach Europa, Österreich und am besten nach Niederösterreich bringen. Das schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze gleichzeitig.
Der Projektfonds „Arbeit 4.0“fördert in NÖ heuer Projekte zum Thema Versorgungssicherheit. Sie legen einen starken Fokus auf Gemeinden. Was erwarten Sie hier?
Kommunen stellen viele Dienstleistungen und Güter für die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung und sichern als starke Partner der lokalen Wirtschaft Arbeitsplätze in der Region. Durch Corona leiden Gemeinden unter massiven Einnahmenausfällen und stehen unter finanziellem Druck.
Es gab zwar bereits zwei Hilfspakete des Bundes, aber die waren nicht immer treffsicher. Ein drittes Paket ist dringend notwendig, damit die Gemeinden ihre Aufgaben wahrnehmen, die Dienste der Grundversorgung unverändert anbieten sowie den unmittelbaren Lebensraum der Menschen gestalten und weiterentwickeln können.
Im Oktober läuft die nächste Ausschreibung. Wir haben in fünf niederösterreichischen Kernregionen – das sind 573 Gemeinden – politisch Interessierte eingeladen, zu Fragen der Versorgungssicherheit ihre Ideen einzureichen.
Aktuell beschäftigen uns neben den 3V auch Klimawandel, Pandemie und Krieg in Europa. Wie geht man in der AK mit diesen großen Themen um?
Wir bereiten uns darauf vor und entwickeln Pläne. Wird das Gas im Winter knapp, so wird das Instrument der Kurzarbeit wieder mehr heranzuziehen sein, um zu verhindern, dass die Zahl der Arbeitslosen steigt und Betriebe geschlossen werden müssen. Eine Steuerung vonseiten des Staates wird in manchen Bereichen unumgänglich werden. Ich würde mir wünschen, dass man etwa den Warenkorb für Grundnahrungsmittel regelt. Auch Wohnen wird für viele Menschen nahezu unleistbar – hier braucht es Steuerungsmechanismen, die überzogenen Teuerungen einen Deckel aufsetzen.
Klar ist bei all diesen Überlegungen: Im Mittelpunkt der Maßnahmen müssen immer die einzelnen
Menschen stehen.