Von Kastanien zu Palmen
Schweiz/Tessin. Zwischen Bellinzona und Lugano sind die Wälder schön und still, voller Herbstlaub und steilerer Passagen. Das freut Berg- und Weitwanderer – bei jedem Wetter.
In Lugano regnet es nicht nur himmelabwärts. Es regnet auch pflasteraufwärts. Angeblich verausgabt sich Niederschlag, hat er sich einmal auf den Süden des Tessins eingeschossen, fünf Tage lang. Wo sind wir hier gelandet? Im Salzkammergut der Schweiz?
Aber nein, dieser sprühnebelverhangene Blick auf Lugano ist ein seltener Zufall für Weitwandernde – und ein durchaus beeindruckendes atmosphärisches Erlebnis. Bilderbuchoptik, pah, das kann bald eine Landschaft. Fotos zeigen die Kulisse rund um Lugano schließlich immer prächtig, strahlend, geradezu mediterran – aber mystisch? Da unten, tief eingeschnitten, liegt fjordartig der Lago di Lugano, um dicht bewaldete Aussichtsberge – den Monte Brè, den Monte Generoso, den geologisch hochinteressanten Monte San Giorgio – gewunden wie ein Wurm. Die Erhebungen steil, kompakt belaubwaldet und zuckerhutähnlich. Die Siedlungen an den Flanken eine Verdichtung aus lombardischer Architektur, alpiner Tradition und aktuellem Bauboom. Am Ufer wachsen Palmen, Magnolien, Rhododendren. Im Parco Ciano noch exotischere Pflanzen. Der Gesamteindruck: geradezu subtropisch.
Baumriesen und Wurzelknoten
Wir kommen gerade aus ein paar Vegetationsetagen höher: „Buche, Kastanie, Eiche und oben auch die Erle – der typische Tessiner
Bergwald sieht so aus“, erklärt Antonio Borra, der uns als Guide auf den Etappen zwischen der kleinen Ortschaft Cimadera und dem Monte Brè bei Lugano begleitet. Alte Baumriesen flankieren den Pfad, so wild verknotete Wurzeln hat man im austriakischen Wald selten gesehen, Steinbrocken und Kastanien komplettieren das Bild. Fehlt nur noch, dass ein Einhorn aus den Nebelschwaden springt und einen durch den zunehmend felsigen Abschnitt geleitet. Der Weg durch die Denti della Vecchia nämlich, das Herzstück auf dem Weg Nummer 52, ist an ein, zwei, drei Stellen recht ausgesetzt. Doch dann stellt sich Antonio sichernd vor den Abgrund, während er von seiner Zeit an der ETH Zürich erzählt und dem Spaß, den er als Bau-Unternehmer nebenbei am Wanderführen hat.
Dolomiten en miniature
Innen schlängelt sich der Pfad zwischen Felsnadeln und -zähnen hindurch. Von außen sind die Denti alla Vecchia ein beliebtes Klettergebiet, Dolomiten en extraminiature. An ihnen haben sich früher noch viel mehr Alpinisten versucht, bevor sie fernere Gipfel lockten. Kein Wanderer, keine Mountainbikerin begegnet uns in all den Stunden. Wie war das noch, das Paradox? Mit dem meisten Niederschlag auf einmal und doch der niedrigsten Niederschlagsmenge der Schweiz in Summe. Von 2170 Sonnenstunden im Jahr im Tessin hatte Jutta Ulrich von Ticino Turismo unterwegs erzählt. Tatsächlich ohne einen Tropfen von oben
hatten wir die finalen Stufen am Monte Brè erreicht, und dann die Standseilbahn (Funicolare) hinunter in die Stadt. Anmerkung an dieser Stelle: Wenn dir jemand in der Schweiz sagt: „Es sind eh nur ein paar Stufen“, legst du besser das Doppelte an Zeit und Metern drauf.
Zwei Tage lang haben wir viele Stunden und Höhenmeter aufgeteilt auf beispielhafte Etappen – zuerst von Isone nach Tesserete, dann von Cimadera zum Monte Brè. Sprich uns aus dem touristisch wenig bekannten Hinterland bis in die touristische Zivilisation vorgearbeitet. Währenddessen ist das Gepäck dank der Organisation von Eurotrek hinter uns hinterhergefahren und hat in den Quartieren schon gewartet. Wir haben an lauschigen Plätzen den leichten, kleinen Rucksack ausgepackt und kurz gerastet. Sind in urigen Alpwirtschaften eingekehrt und zwischen verirrten Sonnenstrahlen vor der Hütte gesessen. Haben am Abend in einer Osteria auf Deutsch bestellt und sind umso freundlicher auf Italienisch bewirtet worden. Durften typische Gerichte wie Polenta und Brasato (Braten), Risotti und Wildsalami kosten, dazu gab’s lokales Bier oder Merlot, die Hauptrebsorte im Tessin. Die meisten Zutaten freilich stammten nicht mehr aus den rätselhaften Steinkellern am Wegesrand – Vorratsspeicher –, aber doch mit dem Eindruck, wie einfach, aber effizient das bäuerliche Leben und die Küche einst hier waren.
Geschmuggelt wurde auf diesen weit verzweigten Saumpfaden unweit der Grenze übrigens vieles, Kaffee wandert angeblich heute noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit nach Italien hinüber. Dass der in der Schweiz günstiger sein soll als in der benachbarten Lombardei – erstaunlich, schießt es einem durch den Kopf. Und wie passt das mit den vielen Palais und Bankhäusern in Lugano, dem drittgrößten Finanzplatz der Schweiz, zusammen? Den vielen guten Lokalen und den noblen Geschäften unter den Lauben der Via Nassa?
Aufschwung durch Alpentransversale
Das war nicht immer so. Lang galt das Tessin, die italienische Schweiz, als wirtschaftlich nicht gerade begünstigt. Hinter dem Gotthardmassiv gelegen, kam der Anschluss der Region von Norden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Eisenbahn in die Gänge. Die Tessiner waren arm, viele wanderten aus (etwa nach Argentinien). Noch vor einem halben Jahrhundert lebten die Bewohner vor allem von der Landwirtschaft mit Ziegen und Pferdekarren, etwas Wein und sehr viel Kastanien, von denen es hier an die 20 Sorten gibt. Doch von der archaischen Aura der alten Steinhäuser und den wie mit der Natur verwachsenen kleinen Dörfern darf man sich heute nicht täuschen lassen: Da steckt viel Komfort, Design und gehobener Lebensstil hinter einer oft denkmalgeschützten Fassade.
Durch den Bau der Neuen EisenbahnAlpentransversale (NEAT) beziehungsweise des (mit 57 Kilometern weltweit längsten) Eisenbahntunnels durch das Gotthardmassiv ab den 1990ern schließlich kamen viele Industrie- und technische Betriebe ins Tessin. Das bildet sich auch in der Verbauung des Talbodens ab. Und setzt sich im exklusiven Wohnbau in steilen Lagen weiter fort.
Der Tourismus, der von der nunmehr schnellen Verbindung zwischen Zürich und Milano profitiert, spielt sich vor allem in den großen Orten an den Ufern ab – Lugano am Luganer See, Ascona und Locarno am Lago Maggiore. Manche, die das Tessin noch besser kennenlernen wollen, steigen auf ihrer Zug-Anreise bereits ein paar Kilometer früher aus – in Bellinzona.
Auch wir Wanderer sind in der Tessiner Kantonshauptstadt aus- und in das weitverzweigte System aus gut markierten Wanderwegen rundum eingestiegen. Und haben gleich einmal mit einer Stadttour begonnen, die nicht nur eine feine Bahnhofstraße geradeaus, sondern auch bergauf führt. Ganz offensichtlich hatte Bellinzona schon sehr früh
WANDERN IM TESSIN
Anreise: Mit der ÖBB oder Swiss nach Zürich, weiter mit dem Zug (Swiss Travel System) nach Bellinzona. mystsnet.com
Unterwegs: Organisierte Wandertouren mit Eurotrek: Routenkarten, Gepäckstransport, vorgebuchte Quartiere. eurotrek.ch
Begangene Route: Isone–Tesserete und Tesserete bzw. Cimadera–Monte Bre` (Lugano)
Übernachten: In Bellinzona: Hotel Internazionale, hotel-internazonale.ch; in Tesserete: Hotel Tesserete, hotel-tesserete.ch Info: luganoregion.com, bellinzonevalli.ch, ticino.ch Schweiz-Info: myswitzerland.com Compliance-Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung von Schweiz Tourismus. strategische Bedeutung: Hier kommen viele Verbindungen über die Alpen ganz eng zusammen, nach Südwesten weitet sich die Ebene bis zum Lago Maggiore, seitlich begrenzen Berge die 43.000-Einwohner-Stadt am Fluss Ticino. Eindrucksvoll bilden drei Burgen aus dem späten 13. bis dem 15. Jahrhundert eine regelrechte Talsperre gegen alles, was unangemeldet daherkam. Zuerst mauerten hier die Herzöge aus Mailand gegen die Begehrlichkeiten der Eidgenossen, bis Bellinzona im 16. Jahrhundert den Spieß einfach umdrehte. So ragt mitten in der Stadt mit dem Castelgrande eine fantastische, große und modern adaptierte Anlage auf. Sie dockt an der Wehrmauer an und besetzt den riesigen Felsen, der von der letzten Eiszeit zurückgeblieben ist. Höher am Berg stehen das Castello di Montebello und Castello di Sasso Corbaro. Dieses Ensemble ist eindrucksvollstes Unesco-Weltkulturerbe.
Die Zinnen hatten noch in der Sonne gestrahlt, als wir aufbrachen, um die erste Etappe von Isone nach Tesserete zu bestreiten. Schon bald kam Wind auf. Nebel zogen über das Hochmoor von Gola di Lago. Ein Tropfen, noch einer. Nicht nur die Birken raschelten im bunten Herbstwald. Was bewegte sich da hinter den Farnen? Die Stimmung hier oben: traumhaft! Wer sagt’s denn: blauer Himmel, Sonnenschein – das ist einfach überbewertet.