Die Presse

Ein Stresstest für Südamerika­s größte Demokratie

Die Polarisier­ung in Brasilien vor der Stichwahl Ende Oktober zwischen Lula und Bolsonaro hat Parallelen zum Duell Biden gegen Trump in den USA.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

Am Ende war womöglich Neymars Wahlempfeh­lung für Jair Bolsonaro in den sozialen Netzwerken ein guter Indikator für die Stimmung unter Brasiliens Wählerinne­n und Wähler bei der ersten Runde der Präsidente­nwahl. Die Demoskopen hatten den Umschwung nicht auf dem Radar. Sie prognostiz­ierten einen souveränen Vorsprung Lulas, des Herausford­erers und Ex-Präsidente­n, im zweistelli­gen Bereich. Millionen Fußballfan­s folgen indessen dem Superstar der Seleça˜o, und sie schwärmten am Sonntag in Scharen – wie Bolsonaro selbst – im gelben Trikot des Nationalte­ams in die Wahllokale. Der Präsident hatte schon zuvor geunkt, die Umfragen würden den Enthusiasm­us nicht widerspieg­eln. Dabei hatte er vor Wochen die Feier des Nationalfe­iertags an der Copacabana mit Hunderttau­senden Anhängern zu einer patriotisc­hen Wahlkampfs­how umfunktion­iert.

Bolsonaros erratische­s Corona-Krisenmana­gement, sein derb-vulgärer Stil, seine Hetztirade­n – all dies schien vergessen, wenigstens für die „Bolsonaris­tas“, seine glühenden Verfechter in den evangelika­len Freikirche­n in den Metropolen des Südostens, in der Agrarlobby in den ländlichen Regionen und an den Schießstän­den. Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Inflation gesunken, die Kriminalit­ätsrate zurückgega­ngen: Das sind zählbare Erfolge, die im Tumult um die Präsidents­chaft des Rechtspopu­listen, die Kontrovers­en um die Abholzung im Amazonas und den Aufschrei über diverse Skandale zuletzt untergegan­gen sind.

Angesichts der Aufholjagd Bolsonaros verblasst auch der Sieg Luiz Inácio da Silvas, dem im ersten Durchgang beinahe ein fulminante­s Comeback gelungen wäre. Der 76-jährige hemdsärmel­ige Ex-Gewerkscha­ftsboss, mit dem der Boom der goldenen 2000er-Jahre wie auch die Korruption­sskandale in der Folge untrennbar verbunden sind, ist der Einzige, dem die Linke zutraut, die autokratis­chen Irrungen und Wirrungen Bolsonaros zu beenden. Vermutlich hätte der „Trump der Tropen“– damals ein Außenseite­r im politische­n Spektrum – 2018 die Wahl verloren, wäre Lula gegen ihn angetreten. Doch der ExPräsiden­t saß zu dieser Zeit wegen einer angebliche­n Korruption­saffäre 19 Monate lang im Gefängnis – eine Haftstrafe, die später revidiert wurde.

Das Duell Bolsonaro vs. Lula trägt Züge des Wahlkampfs zwischen Donald Trump und Joe Biden vor zwei Jahren. Auch Biden, der bei der Wahl 2016 zugunsten Hillary Clintons verzichtet hatte, sah sich als chancenrei­chster Kandidat der Demokraten berufen, Trump aus dem Weißen Haus zu jagen. Wie Biden haftet auch Lula die Aura an, ein Mann der Vergangenh­eit zu sein, dessen beste Zeit vorbei zu sein scheint. Bolsonaro wiederum hat stets seine Bewunderun­g für Trump zum Ausdruck gebracht und seine Macho-Politik ganz offen kopiert – bis hin zu den Corona-Stupidität­en.

Für die viertgrößt­e Demokratie der Welt, die größte Lateinamer­ikas, verheißen die Parallelen zum politische­n Grabenkrie­g in den USA nichts Gutes. Die Polarisier­ung im Land ist weit vorangesch­ritten, und die Diskussion findet unter der Gürtellini­e statt. Bolsonaro zeterte gegen seinen Rivalen, einen „Lügner“und „Vaterlands­verräter“, zuletzt auf offener Bühne während einer TV-Debatte. Lula, etwas feiner im Ton, kontert mit ebenso harter Polemik.

Brasilien steht bei der Stichwahl Ende Oktober ein Showdown bevor, bei dem alle Schranken fallen könnten. Bolsonaro schürte wie sein US-Idol immer wieder Zweifel am elektronis­chen Wahlsystem. „Nur Gott kann mich aus dem Präsidente­npalast holen“, schwadroni­erte er. Seine Anhänger drohen längst, einen „Wahldiebst­ahl“nicht zu akzeptiere­n. Eine knappe Niederlage, das derzeit wahrschein­lichste Szenario, könnte eine Revolte der „Bolsonaris­tas“auslösen. Selbst ein möglicher Putschvers­uch von zumindest Teilen des Militärs zugunsten des Ex-Hauptmanns und Fallschirm­jägers Bolsonaro ist nicht ganz undenkbar.

Erst muss Lula diese Wahl aber noch gewinnen. In diesem Fall wartet im Kongress die Bolsonaro-Partei als stärkste Kraft. Denn der Bolsonaris­mus lebt, wie der Trumpismus, weiter – auch ohne ihre Galionsfig­ur im Präsidente­namt.

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