Ein Stresstest für Südamerikas größte Demokratie
Die Polarisierung in Brasilien vor der Stichwahl Ende Oktober zwischen Lula und Bolsonaro hat Parallelen zum Duell Biden gegen Trump in den USA.
Am Ende war womöglich Neymars Wahlempfehlung für Jair Bolsonaro in den sozialen Netzwerken ein guter Indikator für die Stimmung unter Brasiliens Wählerinnen und Wähler bei der ersten Runde der Präsidentenwahl. Die Demoskopen hatten den Umschwung nicht auf dem Radar. Sie prognostizierten einen souveränen Vorsprung Lulas, des Herausforderers und Ex-Präsidenten, im zweistelligen Bereich. Millionen Fußballfans folgen indessen dem Superstar der Seleça˜o, und sie schwärmten am Sonntag in Scharen – wie Bolsonaro selbst – im gelben Trikot des Nationalteams in die Wahllokale. Der Präsident hatte schon zuvor geunkt, die Umfragen würden den Enthusiasmus nicht widerspiegeln. Dabei hatte er vor Wochen die Feier des Nationalfeiertags an der Copacabana mit Hunderttausenden Anhängern zu einer patriotischen Wahlkampfshow umfunktioniert.
Bolsonaros erratisches Corona-Krisenmanagement, sein derb-vulgärer Stil, seine Hetztiraden – all dies schien vergessen, wenigstens für die „Bolsonaristas“, seine glühenden Verfechter in den evangelikalen Freikirchen in den Metropolen des Südostens, in der Agrarlobby in den ländlichen Regionen und an den Schießständen. Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Inflation gesunken, die Kriminalitätsrate zurückgegangen: Das sind zählbare Erfolge, die im Tumult um die Präsidentschaft des Rechtspopulisten, die Kontroversen um die Abholzung im Amazonas und den Aufschrei über diverse Skandale zuletzt untergegangen sind.
Angesichts der Aufholjagd Bolsonaros verblasst auch der Sieg Luiz Inácio da Silvas, dem im ersten Durchgang beinahe ein fulminantes Comeback gelungen wäre. Der 76-jährige hemdsärmelige Ex-Gewerkschaftsboss, mit dem der Boom der goldenen 2000er-Jahre wie auch die Korruptionsskandale in der Folge untrennbar verbunden sind, ist der Einzige, dem die Linke zutraut, die autokratischen Irrungen und Wirrungen Bolsonaros zu beenden. Vermutlich hätte der „Trump der Tropen“– damals ein Außenseiter im politischen Spektrum – 2018 die Wahl verloren, wäre Lula gegen ihn angetreten. Doch der ExPräsident saß zu dieser Zeit wegen einer angeblichen Korruptionsaffäre 19 Monate lang im Gefängnis – eine Haftstrafe, die später revidiert wurde.
Das Duell Bolsonaro vs. Lula trägt Züge des Wahlkampfs zwischen Donald Trump und Joe Biden vor zwei Jahren. Auch Biden, der bei der Wahl 2016 zugunsten Hillary Clintons verzichtet hatte, sah sich als chancenreichster Kandidat der Demokraten berufen, Trump aus dem Weißen Haus zu jagen. Wie Biden haftet auch Lula die Aura an, ein Mann der Vergangenheit zu sein, dessen beste Zeit vorbei zu sein scheint. Bolsonaro wiederum hat stets seine Bewunderung für Trump zum Ausdruck gebracht und seine Macho-Politik ganz offen kopiert – bis hin zu den Corona-Stupiditäten.
Für die viertgrößte Demokratie der Welt, die größte Lateinamerikas, verheißen die Parallelen zum politischen Grabenkrieg in den USA nichts Gutes. Die Polarisierung im Land ist weit vorangeschritten, und die Diskussion findet unter der Gürtellinie statt. Bolsonaro zeterte gegen seinen Rivalen, einen „Lügner“und „Vaterlandsverräter“, zuletzt auf offener Bühne während einer TV-Debatte. Lula, etwas feiner im Ton, kontert mit ebenso harter Polemik.
Brasilien steht bei der Stichwahl Ende Oktober ein Showdown bevor, bei dem alle Schranken fallen könnten. Bolsonaro schürte wie sein US-Idol immer wieder Zweifel am elektronischen Wahlsystem. „Nur Gott kann mich aus dem Präsidentenpalast holen“, schwadronierte er. Seine Anhänger drohen längst, einen „Wahldiebstahl“nicht zu akzeptieren. Eine knappe Niederlage, das derzeit wahrscheinlichste Szenario, könnte eine Revolte der „Bolsonaristas“auslösen. Selbst ein möglicher Putschversuch von zumindest Teilen des Militärs zugunsten des Ex-Hauptmanns und Fallschirmjägers Bolsonaro ist nicht ganz undenkbar.
Erst muss Lula diese Wahl aber noch gewinnen. In diesem Fall wartet im Kongress die Bolsonaro-Partei als stärkste Kraft. Denn der Bolsonarismus lebt, wie der Trumpismus, weiter – auch ohne ihre Galionsfigur im Präsidentenamt.