Europa muss solidarisch bleiben!
Energiekrise. Die Kommissare für Wirtschaft und Binnenmarkt warnen angesichts der Energiekrise vor einem Subventionswettlauf.
Europa muss seine koordinierten Unterstützungsbemühungen fortsetzen, um Unternehmen zu helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze zu erhalten. Gleichzeitig aber müssen wir sehr darauf bedacht sein sicherzustellen, dass in unserem Binnenmarkt für alle die gleichen Bedingungen gelten. Das von Deutschland eben beschlossene massive Hilfspaket in Höhe von 200 Milliarden Euro – immerhin fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ist insofern einerseits genau die Antwort, die wir brauchen. Andererseits wirft es Fragen auf. Allen voran: Was heißt das für die Mitgliedstaaten, die nicht über denselben budgetären Spielraum wie Deutschland verfügen, um ihre Unternehmen und Haushalte vergleichbar zu unterstützen?
Mehr denn je müssen wir vermeiden, den Binnenmarkt zu verzerren. Wir dürfen keinen Subventionswettlauf starten und so die Grundsätze der Solidarität und Einheit, die den Erfolg unseres europäischen Projekts begründen, infrage stellen. Und all das in einer Zeit, in der die USA mit ihrem „Inflation Reduction Act“beispiellose Schritte machen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und innovative Unternehmen anzulocken.
Wir brauchen einen neuen Ansatz für eine koordinierte Antwort. Wir können nicht auf die Verschuldungsfähigkeit der Staaten blicken, wie wir das bisher gemacht haben. Nur auf die tatsächliche Verschuldung zu schauen ist unfair oder zumindest unvollständig. Denn dabei bleibt unberücksichtigt, dass jeder Mitgliedstaat in der Vergangenheit politische Entscheidungen darüber getroffen hat, wie er Ziele von gemeinsamem europäischen Interesse verfolgt, die zu einer höchst ungleichen Belastung der Haushalte geführt haben. Dabei geht es um Verteidigungsausgaben ebenso wie Investitionen in die Infrastruktur, die im Interesse der gesamten EU sind. Auch die Anstrengungen der Mitgliedstaaten, den Anteil fossiler Brennstoffe am Energiemix zu senken, wird bisher nicht berücksichtigt. Wenn solche Investitionen (oder eben auch nicht erfolgte Investitionen) im gemeinsamen Interesse angerechnet werden, verringert das die Verschuldungsunterschiede zwischen den Staaten. Das kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Debatte über die Qualität der öffentlichen Finanzen zu versachlichen, statt wie bisher „gute“gegen „schlechte“Schüler auszuspielen, Sparsame gegen Verschwender.
Gemeinsamer Krisenfonds
Die nominale Staatsverschuldung ist und bleibt der Eckpfeiler unserer gemeinsamen Haushaltsregeln, aber sie kann nicht der einzige Referenzpunkt sein. Angesichts der kolossalen Herausforderungen, die vor uns liegen, gibt es nur einen Weg: Europa muss solidarisch bleiben. Um zu verhindern, dass die unterschiedlichen Spielräume, die die Staaten in ihren Haushalten haben, zu Verwerfungen führen, müssen wir über gemeinsame Instrumente nachdenken.
Nur wenn wir die Schritte der Europäischen Zentralbank durch eine starke europäische fiskalische Antwort ergänzen, können wir wirksam reagieren und die volatilen Finanzmärkte beruhigen. So wie wir es bei der Coronakrise geschafft haben, müssen wir gemeinsam und pragmatisch faire Hilfsmechanismen schaffen, die die Integrität und Einheit des Binnenmarkts wahren und alle Unternehmen und Bürger Europas schützen. Das wäre auch ein erster Schritt, um „europäische öffentliche Güter“in den Bereichen Energie und Sicherheit zu schaffen. Die EU hat bewiesen, dass sie stark reagieren kann, wenn sie Gräben überwindet und ihre finanzielle Schlagkraft solidarisch und gerecht vergemeinschaftet. Das ist der Kern unseres europäischen Projekts.
Thierry Breton (* 1955, Paris) ist seit 2019 EU-Kommissar für den Binnenmarkt.
Paolo Gentiloni (* 1954 in Rom) ist seit 2019 EU-Kommissar für Wirtschaft.