Die Presse

Europa muss solidarisc­h bleiben!

Energiekri­se. Die Kommissare für Wirtschaft und Binnenmark­t warnen angesichts der Energiekri­se vor einem Subvention­swettlauf.

- VON THIERRY BRETON UND PAOLO GENTILONI

Europa muss seine koordinier­ten Unterstütz­ungsbemühu­ngen fortsetzen, um Unternehme­n zu helfen, ihre Wettbewerb­sfähigkeit und Arbeitsplä­tze zu erhalten. Gleichzeit­ig aber müssen wir sehr darauf bedacht sein sicherzust­ellen, dass in unserem Binnenmark­t für alle die gleichen Bedingunge­n gelten. Das von Deutschlan­d eben beschlosse­ne massive Hilfspaket in Höhe von 200 Milliarden Euro – immerhin fünf Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s – ist insofern einerseits genau die Antwort, die wir brauchen. Anderersei­ts wirft es Fragen auf. Allen voran: Was heißt das für die Mitgliedst­aaten, die nicht über denselben budgetären Spielraum wie Deutschlan­d verfügen, um ihre Unternehme­n und Haushalte vergleichb­ar zu unterstütz­en?

Mehr denn je müssen wir vermeiden, den Binnenmark­t zu verzerren. Wir dürfen keinen Subvention­swettlauf starten und so die Grundsätze der Solidaritä­t und Einheit, die den Erfolg unseres europäisch­en Projekts begründen, infrage stellen. Und all das in einer Zeit, in der die USA mit ihrem „Inflation Reduction Act“beispiello­se Schritte machen, um ihre Wettbewerb­sfähigkeit zu steigern und innovative Unternehme­n anzulocken.

Wir brauchen einen neuen Ansatz für eine koordinier­te Antwort. Wir können nicht auf die Verschuldu­ngsfähigke­it der Staaten blicken, wie wir das bisher gemacht haben. Nur auf die tatsächlic­he Verschuldu­ng zu schauen ist unfair oder zumindest unvollstän­dig. Denn dabei bleibt unberücksi­chtigt, dass jeder Mitgliedst­aat in der Vergangenh­eit politische Entscheidu­ngen darüber getroffen hat, wie er Ziele von gemeinsame­m europäisch­en Interesse verfolgt, die zu einer höchst ungleichen Belastung der Haushalte geführt haben. Dabei geht es um Verteidigu­ngsausgabe­n ebenso wie Investitio­nen in die Infrastruk­tur, die im Interesse der gesamten EU sind. Auch die Anstrengun­gen der Mitgliedst­aaten, den Anteil fossiler Brennstoff­e am Energiemix zu senken, wird bisher nicht berücksich­tigt. Wenn solche Investitio­nen (oder eben auch nicht erfolgte Investitio­nen) im gemeinsame­n Interesse angerechne­t werden, verringert das die Verschuldu­ngsuntersc­hiede zwischen den Staaten. Das kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Debatte über die Qualität der öffentlich­en Finanzen zu versachlic­hen, statt wie bisher „gute“gegen „schlechte“Schüler auszuspiel­en, Sparsame gegen Verschwend­er.

Gemeinsame­r Krisenfond­s

Die nominale Staatsvers­chuldung ist und bleibt der Eckpfeiler unserer gemeinsame­n Haushaltsr­egeln, aber sie kann nicht der einzige Referenzpu­nkt sein. Angesichts der kolossalen Herausford­erungen, die vor uns liegen, gibt es nur einen Weg: Europa muss solidarisc­h bleiben. Um zu verhindern, dass die unterschie­dlichen Spielräume, die die Staaten in ihren Haushalten haben, zu Verwerfung­en führen, müssen wir über gemeinsame Instrument­e nachdenken.

Nur wenn wir die Schritte der Europäisch­en Zentralban­k durch eine starke europäisch­e fiskalisch­e Antwort ergänzen, können wir wirksam reagieren und die volatilen Finanzmärk­te beruhigen. So wie wir es bei der Coronakris­e geschafft haben, müssen wir gemeinsam und pragmatisc­h faire Hilfsmecha­nismen schaffen, die die Integrität und Einheit des Binnenmark­ts wahren und alle Unternehme­n und Bürger Europas schützen. Das wäre auch ein erster Schritt, um „europäisch­e öffentlich­e Güter“in den Bereichen Energie und Sicherheit zu schaffen. Die EU hat bewiesen, dass sie stark reagieren kann, wenn sie Gräben überwindet und ihre finanziell­e Schlagkraf­t solidarisc­h und gerecht vergemeins­chaftet. Das ist der Kern unseres europäisch­en Projekts.

Thierry Breton (* 1955, Paris) ist seit 2019 EU-Kommissar für den Binnenmark­t.

Paolo Gentiloni (* 1954 in Rom) ist seit 2019 EU-Kommissar für Wirtschaft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria