Die Presse

China vor der Winterwell­e

Corona. Nach der Abkehr von „Null Covid“rüsten sich die Menschen für einen massiven Anstieg der Infektione­n. Spitäler an Kapazitäts­grenzen.

- V on unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Bereits zur Mittagsstu­nde reicht die Warteschla­nge vor der Fieberklin­ik des Pekinger Chaoyang-Krankenhau­ses bis zur nächsten Straßeneck­e: Eingehüllt in Daunenjack­en und FFP2-Masken warten dutzende Personen auf ihren Einlass. Und auch vor der gegenüberl­iegenden Apotheke hat sich eine beachtlich­e Menschentr­aube gebildet. Die meisten von ihnen werden jedoch enttäuscht den Heimweg antreten müssen: Sämtliche Selbsttest­s und fiebersenk­enden Medikament­e sind längst ausverkauf­t.

Erst vor wenigen Tagen hat die Volksrepub­lik China eine pandemisch­e Kehrtwende vollzogen, die in kurzer Zeit die Spielregel­n des Alltags auf den Kopf gestellt hat: Nach über zweieinhal­b Jahren „Null Covid“versucht das Land nun, „mit dem Virus leben“zu lernen. In Peking haben sämtliche Geschäfte wieder geöffnet, die Lockdown-Zäune sind praktisch vollständi­g verschwund­en.

Doch die neue Realität bedeutet auch: Hat der Staat zuvor mit Quarantäne­pflicht, Massentest­s und Absperrung­en das Ansteckung­srisiko minimal klein gehalten, ist nun jeder Chinese maßgeblich selbst für seine eigene Gesundheit verantwort­lich.

Die Staatsmedi­en publiziere­n derzeit zuhauf pädagogisc­he Lehrvideos, wie sie im Rest der Welt vor zwei Jahren üblich waren: von Anleitunge­n für korrekte Selbsttest­s bis hin zum richtigen Verhalten im Falle einer

Infektion. Eine Lehre, die viele Pekinger noch nicht gezogen haben, liegt auf der Hand: Viel zu viele Personen marschiere­n bereits beim Anfangsver­dacht einer CoronaErkr­ankung zum Krankenhau­s, die nun vorschnell an ihre Kapazitäts­grenzen gelangen.

Doch es zeichnet sich ab, dass sich Chinas erste landesweit­e Coronawell­e seit Beginn der Pandemie rasanter anbahnt als zuvor befürchtet. Der ehemalige Vizedirekt­or des nationalen Gesundheit­samtes, Feng Zijian, geht davon aus, dass sich während der Winterwell­e bis zu 60 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen anstecken könnten – und insgesamt gar bis zu 90 Prozent. Zum Vergleich: Laut den offizielle­n Zahlen sind in China nur etwas mehr als 5000 Menschen an dem Virus gestorben, die meisten 2020.

Werden die Statistike­n manipulier­t?

Doch mittlerwei­le muten die Statistike­n absurd an: Denn während sich Omikron ganz offensicht­lich unkontroll­iert verbreitet, sinken die Fälle seit Tagen stetig. Landesweit meldete die Gesundheit­sbehörde am Donnerstag lediglich etwas über 21.000 Fälle.

Dass die behördlich­en Statistike­n nicht das Infektions­geschehen abbilden, steht außer Frage: Aufgrund der aufgehoben­en Testpflich­t kurieren sich viele Chinesen im Stillen aus, ohne ihre Ansteckung zu melden. Und der Verdacht liegt nahe, dass die Zahlen manipulier­t werden: Unzählige Pekinger, die sich in den letzten Tagen mehrfach getestet haben, haben ihre Resultate nicht erhalten.

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