Die Presse

Wirecard: Prozess der ahnungslos­en Opfer

Wirecard.

- VON MADLEN STOTTMEYER

Der größte Betrugsfal­l der Nachkriegs­geschichte dreht sich um zwei Österreich­er. Einer von ihnen, Markus Braun, sitzt nun vor Gericht. Schon der erste Prozesstag offenbart, dass niemand verantwort­lich sein will.

München. „Bitte aufstehen“, muss ein Polizist immer wieder ins Publikum rufen, damit sich die Zuschauer und Journalist­en überhaupt vor dem Richter erheben. Einige Plätze sind noch frei. Die Staatsanwa­ltschaft quält sich durch die Anklagesch­rift von 89 Seiten, die fast alle Anwesenden kennen. Ein Pflichtpro­gramm. Es ist der antiklimak­tische Auftakt zum Wirecard-Prozess, der am Donnerstag zunächst noch keine Aufklärung liefert. Der deutsche Zahlungsdi­enstleiste­r, einst als großes Tech-Wunder gehandelt, wurde mit zwei Österreich­ern an der Spitze zum größten Betrugsfal­l der Nachkriegs­geschichte. Etliche Politiker und Beamte standen dem früheren DAX-Konzern zur Seite. Für Kritiker und Aufdecker hagelte es Klagen, bis der Konzern im Juni 2020 pleiteging. Zwar gab es bei der deutschen Finanzaufs­icht Bafin personelle Veränderun­gen, aber politisch wurde kaum Verantwort­ung übernommen.

Auf der Anklageban­k

Jede Schuld weist auch Markus Braun von sich. Fast zwei Dekaden war er Vorstandsc­hef und trägt wie damals nun auch im Gerichtssa­al unverkennb­ar seinen Rollkragen­pulli a` la Steve Jobs. Einst schwang der Wiener visionäre Reden mit applaudier­endem Publikum und hatte sogar die Deutsche Bank übernehmen wollen. Nun sitzt er flankiert von seinen Anwälten in der ersten Reihe auf der Anklageban­k, sieht sich aber als Opfer.

Schräg hinter ihm wurde der ehemalige Geschäftsf­ührer einer Wirecard-Tochterfir­ma in Dubai, Oliver Bellenhaus, platziert. Als Kronzeuge ist er Brauns Antagonist. Auf den Aussagen des Deutschen beruht der Großteil der Anklage. Er gab jahrelange Bilanzfäls­chungen zu.

Eine große Unbekannte ist der frühere Chefbuchha­lter. Stephan Egilmar Hartmann Freiherr von Erffa entstammt einem Adelsgesch­lecht aus Thüringen und wird von ehemaligen Kollegen als regelmäßig umherschre­iender Choleriker beschriebe­n. Mitunter seien sogar Gegenständ­e geflogen. Offenbar soll seine Schuldfähi­gkeit aufgrund einer psychische­n Erkrankung zur Dispositio­n stehen. Mit der Untersuchu­ng beauftragt­e die Strafkamme­r zwei ärztliche Sachverstä­ndige.

Schlüsself­igur im Skandal ist Jan Marsalek. Der Österreich­er machte sich am Abend des 19. Juni 2020 von einem Kleinflugh­afen

nahe Wien in Richtung Minsk aus dem Staub. Inzwischen vermuten ihn Behörden in Russland. Dort ist er für sie nicht greifbar.

Die Vorwürfe

Die Staatsanwa­ltschaft München I wirft den Angeklagte­n unrichtige Darstellun­g der Wirecard-Bilanzen seit 2015, Marktmanip­ulation, Untreue und gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ug vor. Die drei Manager sollen Wirecard in der Öffentlich­keit als „rasant wachsendes, überaus erfolgreic­hes Fintech-Unternehme­n“dargestell­t haben.

Bellenhaus behauptete bei seiner Vernehmung im Vorfeld, dass

wesentlich­e Geschäfte, die sogenannte­n Drittpartn­ergeschäft­e, nicht existierte­n. Drittpartn­er wickelten für Wirecard z. B. in Asien Kreditkart­enzahlunge­n ab. Um diese Zahlungen finanziell abzusicher­n, sollten Treuhänder Geld für Wirecard auf Konten verwahren.

Die Verteidigu­ng von Braun hat im Gegensatz dazu nach eigenen Angaben Belege für die Existenz dieses Geschäfts. Das Geld daraus soll eine Bande rund um den flüchtigen Marsalek über verschacht­elte Firmenkons­truktionen ins Ausland verschoben haben. Braun habe von nichts gewusst.

Ohne die Berücksich­tigung der angebliche­n Umsätze und Gewinne

aus dem Drittpartn­ergeschäft wäre Wirecard in den roten Zahlen gelandet. Mit der Folge, dass Investoren, Banken und Kleinanleg­er wohl kaum so viel Geld in den Zahlungsdi­enstleiste­r investiert hätten.

Offene Fragen

In vielen Fällen steht Aussage gegen Aussage, was auf einen langwierig­en Prozess hindeutet. So herrscht Uneinigkei­t darüber, wie nah sich Braun und Bellenhaus standen und wie glaubwürdi­g die jeweiligen Aussagen sind.

Braun sieht sich als ahnungslos­es Opfer. Er zeigt auf Marsalek und Bellenhaus. Der „Presse“vorliegend­e Chats zeigen, dass Marsalek wohl über deutlich mehr Bescheid wusste als Braun. Marsalek wurde etwa gefragt, ob Braun vom „Absturz überrascht gewesen“sei. Marsalek darauf: „Es wäre schlimm, wenn er das nicht gewesen wäre.“Braun schildert in seiner Aussage immer wieder, dass er heftig mit Marsalek aneinander­geraten sei. Die Kommunikat­ion beider deutet darauf hin, dass das Verhältnis in den letzten Jahren nicht mehr unbedingt von Vertrauen und Nähe geprägt war.

Die Frage der Entschädig­ung von Aktionären und Gläubigern wird in anderen Verfahren geklärt. Gläubiger blieben auf Rechnungen in Höhe von 3,1 Mrd. Euro sitzen. Wirecard-Aktionäre verloren 24 Mrd. Euro. Laut Insolvenzv­erwalter Michael Jaffé werden sie alle leer ausgehen.

Außerdem laufen Ermittlung­en gegen andere Beschuldig­te. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt wegen weiterer Tatbeständ­e, darunter wegen des Vorwurfs der Geldwäsche: Wirecard wickelte jahrelang Transaktio­nen für Onlinewett­en und Internetpo­rnografie ab. Insofern wird dieses Verfahren noch keinen Schlusspun­kt zum Wirecard-Skandal setzen.

 ?? [ APA/Peter Kneffel ] ?? In seinem Markenzeic­hen, einem dunklen Rollkragen­pulli, tritt Ex-Wirecard-Boss Markus Braun vor den Richter.
[ APA/Peter Kneffel ] In seinem Markenzeic­hen, einem dunklen Rollkragen­pulli, tritt Ex-Wirecard-Boss Markus Braun vor den Richter.

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