Die therapeutischen Möglichkeiten erweitern
Pflanzliche Heilmittel. In vielen Medikamenten, die wir heutzutage mehr oder weniger regelmäßig einnehen, stecken pflanzliche Wirkstoffe. Österreich steht bei der Erforschung dieser Substanzen sehr gut da.
Pflanzliche Arzneimittel haben in Österreich eine lange Tradition. Die Phytotherapie, wie die moderne Pflanzenheilkunde auch genannt wird, ist heute ein eigenes medizinisch-therapeutisches Gebiet mit ständig wachsender Bedeutung“, sagt Christina Nageler, Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft österreichischer Heilmittelhersteller und Depositeure Igepha. Ihrer Beobachtung nach sind rezeptfreie, pflanzliche Heilmittel unter anderem bei Erkältungen, Hautkrankheiten oder Schlafproblemen für viele Menschen die erste Wahl. „Bei vielen, anders schwer zu behandelnden Erkrankungen stehen sowohl Patienten als auch ihre behandelnden Ärzte unter großem Druck, etwas zu tun. Da greifen sie vielfach zu pflanzlichen Heilmitteln“, sagt Akos Heinemann, Inhaber des Lehrstuhls für Pharmakologie an der Med-Uni Graz. Am dortigen Otto-Loewi-Forschungszentrum für Gefäßbiologie, Immunologie und Entzündung werden sowohl Angriffspunkte für neue Wirkstoffe als auch deren Wirkungen und Wirkmechanismen erforscht.
Pflanzliche Heilmittel haben in der Medizin einen sehr hohen Stellenwert, bestätigt Lukas Huber, Zellbiologe an der Med-Uni Innsbruck und Mitgründer des Austrian Drug Screening Institute (Adsi): „Sehr viele der Medikamente wurden ursprünglich aus pflanzlichen Heilmitteln hergestellt.“Der Experte nennt etwa den Aspirin-Bestandteil
Acetylsalizylsäure, die aus der Birkenrinde isoliert wurde. Auch Chemotherapeutika für Brustkrebspatientinnen haben pflanzlichen Ursprung. „Diese Gifte, die aus Pflanzen extrahiert wurden, greifen die mitotische Spindel an. Die Zellen bleiben in der Zellteilung stecken und sterben.“Forschung nach pflanzlichen Heilmitteln lohne also schon allein, „weil bei Naturstoffen immer wieder neue Wirkungen gefunden werden, die im Idealfall in Form von neuen pflanzlichen Arzneimitteln der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden können und damit die therapeutischen Möglichkeiten erweitern“, sagt Heribert Pittner, bis vor Kurzem Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie.
Gegen Antibiotika-Resistenzen
Forschungsschwerpunkte liegen laut Nageler bei Pflanzen, die psychische Leiden lindern, und seit jeher im Bereich der entzündlichen Prozesse: „Ein wichtiger Ansatz für die Zukunft wird sein, welchen Beitrag pflanzliche Zubereitungen leisten können, den Antibiotikaverbrauch zu senken und somit das wachsende Problem der Antibiotikaresistenzen hintanzuhalten.“Die EU fordert seit 2017 in ihrem „One Health Action Plan“explizit den Einsatz pflanzlicher Präparate im ersten Schritt, um Antibiotika für einen allenfalls notwendigen zweiten Schritt zu reservieren. „Generell will die Forschung in diesen Bereichen wissenschaftlich nachweisen, welche Inhaltsstoffe bewährter
Heilpflanzen für zusätzliche Indikationen verwendet werden können“, erklärt Nageler.
Forschung auf Uni-Niveau
Im Gegensatz zu anderen Ländern gebe es in Österreich noch universitäre Einrichtungen, „in denen Pharmakognosie betrieben wird, also die Untersuchung von Arzneipflanzen mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden“, sagt Pittner. Dazu zählen die Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck. „Alle Forschungsinstitute im ,Phytovalley Tirol‘ im Inntal stehen mit der Medizinischen Universität Innsbruck in Verbindung, es werden gemeinsame Projekte entwickelt. Unter anderem haben wir
die Wirkung von terrestrischen Algen erforscht“, berichtet Huber. „Wir haben die Algen kultiviert und unter Stress gesetzt, etwa durch Stickstoff und UV-Licht. Dann haben wir die Wirkstoffe isoliert und jene gesucht, die antientzündlich wirken.“Das hat zu einem Patent geführt, und es wird an einer neuen Salbe gegen Neurodermitis und Hautreizungen gearbeitet. Das Adsi habe bei der Erforschung von pflanzlichen Heilmitteln eine Vorreiterrolle, seit der Gründung vor über zehn Jahren haben sich im Inntal weitere Forschungsinstitute angesiedelt, etwa 2020 das Michael-Popp-Institut an der Universität Innsbruck. Dort wurde erst im Sommer ein neues
Lipid entdeckt, das den Zelltod stoppt.
Einsicht in zelluläre Vorgänge
Dazu wurden Pflanzenstoffe benutzt, die auf Zellen toxisch wirken, zum Beispiel Myrtucommulon A, das aus der Myrte gewonnen wird. Bei der Zugabe dieses Stoffs konnten die Forscher deutliche Veränderungen in der Zusammensetzung der zellulären Lipide beobachten. Das neu entdeckte Lipid unterbricht normalerweise typische Stressreaktionen und verhindert den Zelltod. Gerät dieser Vorgang aus dem Gleichgewicht, kann er schädliche Folgen haben und Krankheiten wie Krebs und Diabetes begünstigen.