„Sonst beginnt ein sehr dunkles Kapitel“
Interview. Litauens Außenminister, Gabrielius Landsbergis, über Machtkämpfe im „unberechenbaren“Moskau, seinen Traum von einer Art OSZE ohne Russland und darüber, warum er glaubt, dass das Konzept der Neutralität überholt ist.
Die Presse: Litauen hat lang und laut vor Putins aggressivem Imperialismus gewarnt. Zurzeit ist Russland in der Ukraine auf dem Rückzug. Wagen Sie eine Prognose: Wie geht es in Russland weiter? Gabrielius Landsbergis: Russlands Zukunft entscheidet sich in der Ukraine. In Moskau haben schon gewisse Prozesse begonnen, auch wenn sie nicht sehr sichtbar sind. Geht es so weiter, wird die Lage in Moskau immer chaotischer und problematischer werden.
Sie sehen Anzeichen für Machtkämpfe?
Definitiv. Putin tut sich schwer, seine Fehler den russischen Eliten und Oligarchen zu erklären, deren Leben sich rasend schnell verändert hat. Erklärungsbedarf besteht auch insbesondere gegenüber den Menschen in St. Petersburg oder Moskau, die an die Front geschickt werden und dort vielfach sterben. In Russland sickert die Erkenntnis, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten.
Trotz der jüngsten Erfolge der Ukraine glaubt Mark Milley, der höchstrangige Soldat der USA, nicht an einen vollständigen Sieg in naher Zukunft. Er riet deshalb neulich implizit zu Verhandlungen, weil Kiew zurzeit in einer Position der Stärke ist. Was halten Sie davon?
Über Verhandlungen entscheidet die Ukraine allein. Aber aus unserer Sicht hätte es sehr negative Folgen, wenn die Ukrainer jetzt verhandeln und Territorien abgeben müssten. Das wäre der Beginn eines sehr dunklen Kapitels in der Weltgeschichte. Die Russen würden in drei, vier, fünf Jahren ihre Armee wieder aufgebaut haben, und dann könnten wir Strohhalme ziehen, wer als Nächstes dran ist.
Wobei: Der Ukraine-Krieg zeigt doch, dass Russlands Armee dramatisch überschätzt wurde. Muss man vor Moskau überhaupt noch Angst haben?
Wir wissen, dass sich Russland irrational und unberechenbar verhalten kann. Es war, ist und bleibt ein gefährlicher Nachbar. Außerdem waren sie stets erfolgreich, wenn sie begrenzte Krieg führten, wie in Georgien oder auf der Krim, also schnell handelten und unvorbereitete Gebiete eroberten und dann mithilfe des Westens die Konflikte einfroren. Solche Szenarien machen uns Sorgen, falls die Ukraine nicht gewinnen sollte.
Warum sollte Putin just ein Nato-Land wie Litauen angreifen, wenn es auch andere Ziele in der Nachbarschaft gibt, die kein Militärbündnis hinter sich haben?
Alles ist möglich, wenn Russland zum Beispiel den Eindruck hat, dass die Nato abgelenkt ist oder nicht alle Anforderungen erfüllt, um ihre Staaten zu verteidigen. Das Risiko und die Bedrohung sind da. Wir drängen daher unsere Partner so vehement, mehr Truppen ins Baltikum zu verlegen.
Neulich hielt die Welt den Atem an, als eine Rakete in Polen einschlug. Es handelte sich wohl um eine ukrainische Flugabwehrrakete. Wie hätte die Nato reagieren sollen, wenn es sich um eine fehlgeleitete Rakete der Russen gehandelt hätte?
Die Frage stellen sich viele in den baltischen Staaten. Sie war auch eine der ersten, die wir an unsere Partner kurz vor Kriegsbeginn gerichtet haben: „Gibt es dafür ein Protokoll?“Aber das ist alles hypothetisch, und es gibt Leute, die bezahlt werden, um sich dafür Szenarien zu überlegen. Wir brauchen jedenfalls auch eine bessere Luftabwehr in Nato-Staaten an der Grenze zu Russland und Belarus. Dass jetzt eine Patriot-Luftabwehr-Batterie
ZUR PERSON
Gabrielius Landsbergis (40) ist seit Dezember 2020 Außenminister Litauens und seit 2015 Chef der konservativen Partei TS-LKD. Der ehemalige Berater der Regierungskanzlei ist verheiratet und vierfacher Familienvater. Sein Großvater ist Vytautas Landsbergis, der erste Präsident Litauens nach der Unabhängigkeit 1990. Litauen hat 2,8 Millionen Einwohner, ist seit 2004 Nato-Mitglied und grenzt auch an Russland (Kaliningrad) und Belarus. Litauen hat sich heuer unabhängig von russischem Gas gemacht und einen Zaun zu Belarus errichtet.
nach Polen geschickt wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hätte aber gern, dass die baltischen Staaten nicht vergessen werden. Auch wenn wir verstehen, dass Polen als Erster an der Reihe ist.
Es gibt auch eine Initiative für eine neue gemeinsame Luftverteidigung namens Sky Shield. Was halten Sie davon, dass auch das neutrale Österreich eine Beteiligung erwägt?
Das unterstütze ich voll und ganz. Wir müssen aber grundsätzlich schauen, wie wir unsere Verteidigungskapazitäten in Europa erhöhen. Dafür gibt es noch keine Lösung. Vielen, auch uns in Litauen, gehen allmählich die militärischen Vorräte aus.
Sie drängen stets darauf, dass die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt wird. Meint das auch die Krim?
Ja. Mit allen Mitteln, die dafür nötig sind.
Es gibt Experten, die befürchten, dass die Krim eine rote Linie für Putin ist . . .
Putin will immer rote Linien gegenüber dem Westen ziehen. Wenn ich mit Ukrainern rede, gibt es überhaupt keine Bereitschaft, irgendwelche roten Linien mit Blick auf ihr eigenes Territorium zu akzeptieren.
Anders gefragt: Sehen Sie die Gefahr einer nuklearen Eskalation?
Wir nehmen Drohungen von Russland ernst. Immer schon. Aber das Ziehen roter Linien ist Erpressung. Ich würde dem nicht nachgeben.
Der Westen schickt nicht nur, aber auch aus Sorge vor einer Eskalation keine modernen Kampfpanzer, keine Kampfjets und keine Raketen mit Reichweiten bis tief nach Russland. Was halten Sie davon?
Genau dieselben Argumente gab es ganz am ganz Anfang des Kriegs, als nicht jeder Javelinund Stinger-Abwehrwaffen liefern wollte. Diese Waffen halfen dann, den Angriff auf Kiew abzuwehren. Aus meiner Sicht müssen wir nur eine Frage beantworten: Meinen wir es ernst damit, dass die Ukraine ihr Territorium zurückerhalten soll? Dann müssen wir ihr mit allem helfen, was wir haben, auch mit Panzern, die Kiew zurzeit besonders dringend braucht. Es gibt gerade ein Zeitfenster, weil die Böden gefroren sind und sich Panzer daher gut einsetzen lassen. Das würde die Front verschieben.
Und was halten Sie von der Lieferung weitreichender Raketen?
Ich weiß, dass die Leute Angst haben, dass diese Waffen gegen Ziele in Russland eingesetzt werden und Russland danach gegenüber dem Westen eskaliert. Aber die bloße Lieferung der Waffen an die Ukraine würde die Russen in ein strategisches Dilemma stürzen: Wenn die Ukrainer nämlich Raketen mit einer Reichweite von 150 oder 300 Kilometern hätten, wüssten die Russen, dass sie ihre Ausrüstung nicht in die Nähe
der Grenze schieben könnten. Die bloße Möglichkeit eines Angriffs würde also ihr Kalkül verändern.
Sie drängen auch auf eine „neue Sicherheitsarchitektur“in Europa. Das klingt wolkig. Ganz konkret: Was soll sich ändern?
Vor dem 24. Februar hatte Europa zwei verschiedene Sicherheitsarchitekturen. Eine war die Nato. Sie stützt sich auf Gewalt: „Wenn du mich angreifst, antworte ich mit
Gewalt, also probier es lieber gar nicht.“Die andere (die OSZE, Anm.) fußte auf Normen und Übereinkünften, auch über die Unverletzlichkeit von Grenzen. Es gab zwar keine Strafmaßnahmen, um sie durchzusetzen, aber eben eine Übereinkunft, die auch neutralen Staaten wie Österreich diente. Aber jetzt funktioniert das System nicht mehr. Ein Land hat das andere angegriffen, und wir haben keine Antwort darauf. Wir können in der OSZE keine Sanktionen verhängen.
Was schlagen Sie vor?
Ich frage mich, ob es möglich ist, eine neue Organisation zu schaffen, die breiter aufgestellt ist als die Nato: Die also auch für Länder wie Österreich oder Staaten im Südkaukasus in Betracht käme, die aber Möglichkeiten bietet, eine Vereinbarung auch durchzusetzen, vielleicht rechtlich, vielleicht mit Sanktionen. Falls nicht, gibt es ja nur zwei Optionen: Man wird Nato-Mitglied, oder man ist auf sich allein gestellt.
Ihnen schwebt eine (stärkere) OSZE ohne Russland vor?
Im Grunde ist das der Punkt. Ich sehe keine Möglichkeit, wie man mit jemandem über Sicherheitsvereinbarungen reden soll, der aktiv Nachbarn angreift. Und es könnte Jahrzehnte dauern, das verlorene Vertrauen wiederherzustellen.
Welche Rolle sollte das neutrale Österreich spielen?
Ich glaube generell, dass das ganze Konzept der Neutralität in den nächsten Jahren herausgefordert wird. Vor allem, wenn es den Ukrainern aus irgendeinem Grund nicht gelingt, ihr Gebiet zurückzuerobern, wird die Neutralität neu hinterfragt werden. Ich will aber einzelnen Regierungen keine Ratschläge erteilen.
Was ist zu tun, damit die Wirtschaft weiter gedeiht? Die Expert*innen für die Themen Wirtschaft und Arbeitsmarkt Petra Draxl (AMS Wien), Gerhard Hirczi (Wirtschaftsagentur Wien) und Peter Wieser (Stadt Wien Wirtschaft, Arbeit und Statistik) sind Teil eines Netzwerks, das mit Projekten und Förderungen das wirtschaftliche Leben in der Stadt stärkt. Mit Patrice Fuchs und Christine Oberdorfer haben sie über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Wien gesprochen.