Die große Stunde für Afrikas Fußball
Viertelfinale. Nicht alle mag Marokko mit seinem Stil begeistern, doch weit mehr als ein ganzes Land hofft heute auf den historischen Coup.
Doha/Wien. Spätestens jetzt erlebt Katar Fußballeuphorie. Etwa 15.000 Marokkaner leben im Emirat, viele Tausende Landsleute mehr sind zum Turnier angereist – und haben inzwischen Verbündete gefunden. Egal, aus welchem arabischen Land Fans nach Doha gekommen sind, heute (16 Uhr, live ServusTV) sind sie im Viertelfinale gegen Portugal alle Marokkaner. „Das ist ein spezieller Moment für ganz Afrika, für die gesamte arabische Welt und für alle Moslems um uns herum“, weiß Sampdoria-Profi Adelhamid Sabiri.
Die Atlas-Löwen sind nach Kamerun (1990), Senegal (2002) und Ghana (2010) erst das vierte Nationalteam vom afrikanischen Kontinent, das es bei einer WM-Endrunde unter die letzten acht geschafft hat, und das erste arabische überhaupt. Auf Marokko ruhen demnach die Hoffnungen von über einer Milliarde Menschen. „Wir versuchen, sie glücklich zu machen und uns glücklich zu machen“, so Sabiri. Wie sich das anfühlt, das weiß er aus eigener Erfahrung. 2010, als 13-Jähriger, habe er mit Ghana mitgefiebert: „So als wäre es mein Land, weil es ein afrikanisches Land ist.“
Im Eiltempo zur Einheit
Der Wegbereiter dieses Höhenflugs, darin sind sich Beobachter einig, heißt Teamchef Walid Regragui. Erst vor drei Monaten hat der 47-Jährige das Amt angetreten. Dass er verfügbar war, nachdem Vorgänger Vahid Halilhodžić den internen Machtkampf mit den Starspielern Hakim Ziyech (Chelsea) und Noussair Mazraoui (Bayern) verloren hatte, lässt sich rückblickend als Wink des Schicksals deuten. Denn Regragui hatte zuvor mit dem Traditionsklub Wydad Casablanca auf Anhieb Meistertitel und die afrikanische Champions League gewonnen und seinen
größten Erfolg gefeiert, umso überraschender kam sein Rücktritt.
Dies machte den Weg frei für das Nationalteam, für das Regragui 2012/2013 schon einmal als CoTrainer gearbeitet hatte. In seiner ersten Amtshandlung holte er Ziyech
und Mazraoui zurück und setzte sich ein klares Ziel: eine Einheit zu formen, in der die Vielfalt Trumpf ist. Gleich 14 Kaderspieler sind in einem anderen Land als Marokko geboren, so viele wie bei keinem anderen WM-Teilnehmer.
Regragui, selbst in Frankreich geboren, bekam den Vorwurf zu hören, dass sein Team nicht marokkanisch genug sei. „Un
ser Inneres ist marokkanisch, das haben wir alle gelernt“, sagte Regragui. „Jedes Land hat seine Fußballkultur, daraus machst du einen Milchshake und ziehst ins Viertelfinale ein.“Dass er nun mit einem afrikanischen Team im Viertelfinale steht, macht Regragui „sehr glücklich, weil wir den Menschen in Marokko, den Arabern und Afrikanern Freude bereiten können“.
Abwehr ist Trumpf
Was aber ist für Marokko bei dieser WM noch möglich? Gegen die spanischen Ballbesitz-Fetischisten führte eine beherzte Abwehrschlacht zum Erfolg, die Defensive ist ohne Frage das große Prunkstück, wie gerade einmal ein Gegentreffer (ein Eigentor im Gruppenspiel gegen Kanada) beweist. Als umsichtige Abräumer zählen etwa Sofyan Amrabat (26, Fiorentina)
und Azzedine Ounahi (22, Angers) zu den Entdeckungen dieser WM. Und das Selbstvertrauen von Elfmeterheld Bono vermag im Moment Berge zu versetzen.
Doch genügt das, um gegen blendend aufgelegte und wesentlich direkter spielende Portugiesen als erstes afrikanisches Team ein WM-Halbfinale zu erreichen? Im eigenen Spiel nach vorn haben die Atlas-Löwen ihre Schwächen: Vier Tore, das sind die wenigsten aller acht Viertelfinalisten, mit im Schnitt nicht einmal acht Schüssen nähern sie sich auch am seltensten an. Viertelfinalgegner Portugal erzielte im Vergleich mit zwölf Toren die bislang meisten gleichauf mit England, und gibt durchschnittlich 13 Schüsse pro Partie ab.
Nicht alle mag Marokkos destruktiver Ansatz verzücken, Regragui und seine Spieler aber kratzt das nicht. Sollten sie heute Geschichte schreiben, wird jedenfalls weit über Doha hinaus gefeiert werden. Sogar den Königspalast hat die Euphorie erreicht: Jüngst zeigte sich Mohammed VI. im Nationaltrikot.