Als wären sie wieder in Wien
Tom Stoppards Stück „Leopoldstadt“, das derzeit am Broadway läuft, weckt bei manchen jüdischen Besuchern schreckliche Erinnerungen: Katie Herzog erzählt von ihren Ängsten als Jugendliche. Jede Nacht überlegte sie sich Fluchtwege, um den Nazis zu entkommen
Am Times Square pulsiert New York City in all seinen Gegensätzen. Grelle Leuchtreklamen und blinkende Neonlichter von Geschäftsauslagen blenden den Besucher. Auf Bänken und Gehsteigen liegen oder sitzen Obdachlose. Dann biegt der Theaterbesucher in die 48. Straße ein, in der sich das Longacre Theatre befindet. Auf den mit Lichtern umrahmten Plakaten blickt ein Bub mit ernsten Augen durch die gelben Schnüre des Fadenspiels, das er zwischen seinen Fingern hält: „A new play by Tom Stoppard. Leopoldstadt“steht darunter.
Im neuen Theaterstück des britischen Dramaturgen Tom Stoppard geht es um die Geschichte einer großen jüdischen Familie von 1899 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Stoppard verarbeitet darin seine eigene jüdische Herkunft. Auf die Frage in einem Interview, warum das Stück in Wien und nicht am Ort seiner Kindheit in Mähren spiele, meint er lachend: „Alte Gewohnheiten sterben nur langsam. Das Stück handelt nicht von mir, um Gottes willen!“Im 100 Jahre alten Longacre Theatre mit mehr als 1000 Sitzplätzen wird „Leopoldstadt“täglich außer montags aufgeführt. Bis März 2023 soll es am Broadway laufen.
Sobald sich der Vorhang hebt, nimmt das Publikum an einer Wiener Familienfeier des ausgehenden 19. Jahrhunderts teil. Schauspieler in traditioneller eleganter Kleidung. Ein großer Tisch, dahinter ein leerer goldener Gemälderahmen, davor ein Sofa. Rechts steht ein Flügel. Links strahlt ein Christbaum mit Kerzen. Ein Kind klettert auf eine kleine Leiter, um die Baumspitze mit einem Davidstern zu dekorieren. Daneben liegen Geschenke. Katie Herzog (73) erinnert diese erste Szene in „Leopoldstadt“an ihre Kindheit. Ihr Vater stammte aus einer jüdischen Wiener Bankiersfamilie, die der Familie auf der Bühne stark ähnelt, wie sie sagt. Er emigrierte 1937 im Alter von 23 Jahren von Wien nach New York und konnte nach dem „Anschluss“seine Eltern und Großmutter wohlbehalten nach New York holen. „Mein Vater erzählte mir vom Weihnachtsbaum, den sie in Wien gehabt hatten, und von den Kerzen. Am 24. Dezember bekam er seine Geschenke. Als ich ein Kind war, hatten wir Weihnachtsbäume bei mir zu Hause“, erzählt Katie, die eine Management-Consulting-Firma leitet und heute bei Boston lebt.
Die Kristallnachtszene in „Leopoldstadt“empfand Katie als emotional besonders schwierig. „Das Geräusch des zerbrechenden Glases, das Geschrei auf den Straßen und die Nazis an der Tür haben mich aufgewühlt. Die Gestapo kam zu meinen Großeltern und nahm sie gefangen. Sie wurden aber nicht in ein Konzentrationslager gebracht, sondern in ein Gefängnis am Franz-Josefs-Kai.“Ihre Großmutter hatte detailreich von diesem Erlebnis erzählt. Bis heute verwendet sie deren Möbel, Bilder, Porzellan, Silberbesteck und Kristallgläser. „Wenn Sie zu mir nach Hause kämen, würden Sie denken, Sie wären in Wien. Ich spreche Deutsch und bin häufig nach Wien zurückgekehrt.“Die Szene erinnert Katie auch an einen traumatischen Vorfall während einer Wienreise. 1989 besuchte sie gemeinsam mit ihrem Vater die alte Wohnung der Familie in der Spiegelgasse 8. Eine Frau ließ sie eintreten. Katie sagte auf Deutsch zu ihr: „Mein Vater war als Kind hier.“Dem Vater fiel ein kleiner roter Teppich auf, und er sagte, dass dieser Teppich dort gewesen war, als er in der Wohnung lebte. Daraufhin wurde die Frau wütend und begann zu schreien. „Nein, das ist unserer. Mein Mann ist Antiquitätenhändler. Raus, Juden raus. Judenschweine, raus, raus.“
Kanye Wests Hitler-Sager
Katie zitterte, sie liefen die Treppe hinunter, während die Frau weiterschrie und sie beschimpfte. Katie war zutiefst verstört. Ihr Vater meinte nur trocken, dass er keine Gefühle zeige. „Meine Großeltern wurden von der Gestapo aus dieser Wohnung geholt, und im Jahr 1989 wurde ich aus derselben Wohnung geworfen. Daher erschütterte mich diese Szene im Stück am meisten.“Bis sie 20 Jahre alt war, stellte sich Katie vor dem Einschlafen ihren Fluchtweg vor den Nazis vor: „Ich habe mir jede Nacht überlegt, wie ich den Nazis entkommen könnte. Normalerweise dachte ich an die Straße nach Stowe in Vermont, wo ich mich sicher fühlte.“Gerade heutzutage sei ein Stück wie „Leopoldstadt“ notwendig. „Antisemitische Vorfälle haben sich im vorigen Jahr verdoppelt. Dann Kanye Wests Aussage über Hitler. Der Antisemitismus nimmt zu, 65 Prozent der jüngeren Amerikaner wissen gar nicht, was der Holocaust war.“Katie wünscht sich, es gäbe Stiftungen, die Schulen Theatertickets zur Verfügung stellen würden.
Jim Saslow (74) musste herzhaft, fast hysterisch lachen, als der Mathematikprofessor im Stück sagt: „Streck deinen Hals nicht heraus.“Jims Mutter und Großmutter hatten dasselbe zu ihm als Kind gesagt. Jims Familie stammte zum Teil aus Darmstadt und zum Teil aus der Umgebung von Czernowitz in der heutigen Ukraine. Ursprünglich lautete der Familienname Zaslovsky. „Meine Großmutter sprach immer Deutsch, wenn sie nicht wollte, dass wir sie verstehen. Eines Tages benutzte ich einen Ausdruck, den ich aufgeschnappt hatte, woraufhin sie sagte: Sprich nicht so. Die Leute werden denken, dass wir jüdisch sind.“Jim meinte, dass sie doch Juden seien, woraufhin sie erwiderte: „Ja, aber du musst darüber kein Inserat in der Zeitung aufgeben.“Das verstand er damals nicht. „Die Einstellung, niemanden etwas über dich wissen zu lassen, was gegen dich verwendet werden könnte, basierte auf ihrer Erfahrung.“Jim, der ein Doktorat in Kunstgeschichte hat und am Queens College und Graduate Center der City University of NY unterrichtete, lernte so, sich immer diskret zu verhalten. Auch als er sich in den 1970er-Jahren gegenüber seinen Eltern als schwul outete, war die erste Reaktion seines Vaters: „Okay, aber gib keine Anzeige in der Zeitung auf.“Jim war überrascht, dass sein Vater seine Mutter wörtlich zitierte. „Er hatte das aufgeschnappt, als er ein Kind war.“Obwohl sich im Stück nichts speziell auf Homosexuelle bezieht, sind die Parallelen zu anderen von den Nazis verfolgten Gruppen trotzdem für Jim vorhanden. „Ich bin in mehr als einer Hinsicht der Feind der traditionellen Gesellschaft.“Schwule wurden in die Konzentrationslager geworfen, waren Sündenböcke und verstießen gegen die Sodomie-Gesetze. „Juden waren in der Lagerhierarchie bessergestellt als Homosexuelle. Wenn ich im Konzentrationslager gelandet wäre, hätte ich einen gelben Stern und darüber ein umgedrehtes rosa Dreieck tragen müssen.“Jüdisch aufzuwachsen war hilfreich, um sich als schwul zu outen, weil es die gleiche soziale Situation sei, meint Jim. „Du bist Teil einer verachteten Minderheit und musst herausfinden, wie du deine psychische Gesundheit gegen all diesen Druck aufrechterhältst und wie du dein Leben lebst.“
Diejenigen, die fragen, warum Juden es nicht früher gewusst hatten und emigriert wären, verstünden das nicht. „Diese mentale Selbstzensur wurde in ,Leopoldstadt‘ herausgebracht. Die mangelnde Bereitschaft, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.“Für ihn ist das Theaterstück eine Allegorie für das, was gerade in den Vereinigten Staaten passiert. „Dieses heimliche Einschleichen reaktionären, antisemitischen, rassistischen und einwanderungsfeindlichen Denkens. Manche versuchen, die Uhr zurückzudrehen und alles, was wir in den vergangenen 50 Jahren in diesem Land erreicht haben, zu zerstören. Darum geht es auch im Stück.“Er denkt, eine schwarze Person, die „Leopoldstadt“sieht, könnte sich als verachtete Minderheit und Objekt von Gewalt damit identifizieren.
Die Lehrerin Rachel Theilheimer (72) kennt Tom Stoppards Theaterstücke und wusste, dass sie sich gute Tickets leisten musste, um den vielen Details und dem schnellen Sprachfluss folgen zu können. Rachels Familie und die in „Leopoldstadt“dargestellte Familie sind völlig gegensätzlich. Ihre Familie stammte aus Kleinstädten in Süddeutschland. Sie waren Viehhändler und flohen 1936 bzw. 1937 in die USA. Eine Tante stammte aus Österreich. „Mit dem Erstarken der Nazis war es aber für alle dieselbe Situation“, meint Rachel. Sie wuchs in einem konservativ-jüdischen Umfeld auf. „Wir hätten nie einen Weihnachtsbaum gehabt. Wir hatten keinen Chanukka-Busch. Aber meine Mutter sagte immer: Es ist Sonntag. Du musst etwas Schönes aus Respekt vor Christen tragen.“Weihnachten war das, was andere Leute in den Außenbezirken Washingtons feierten.
Doppelgänger des Autors tritt auf
Die Essenz des Stückes dreht sich für Rachel um Identität und die Suche danach. Diese Suche ziehe sich von den Szenen am Anfang, in denen es um Konvertierung zum Christentum geht, bis zum Schluss, als eine Art Doppelgänger von Tom Stoppard die Bühne betritt. Sie fand es unmöglich, Stoppards Lebensgeschichte vom Stück zu trennen. Er wurde 1937 in Zl´ın in Mähren geboren und lebte ab seinem achten Lebensjahr in Großbritannien. Seine Großeltern und andere Verwandte waren von den Nationalsozialisten umgebracht worden. Bis er „Leopoldstadt“schrieb, hatte sich der Schriftsteller kaum mit seiner jüdischen Herkunft auseinandergesetzt. „Seine Mutter wollte nicht mit ihm über ihre Herkunft sprechen. Auch wenn das Stück nicht per se seine Geschichte ist, geht es doch um ihn“, meint Rachel.
„Leopoldstadt“endet mit einer Aufzählung der Namen der Familienmitglieder und der Konzentrationslager, in denen sie ermordet wurden. Suzanne Nossel, Chief Executive Officer von PEN America, sagt: „Ich war am Ende extrem emotional. Rund um mich herum haben einige geweint.“Das Theaterstück kontextualisiert für Suzanne Antisemitismus als einen langfristigen Kampf, den die Menschen zumindest in den Vereinigten Staaten nicht unbedingt verstehen. „Juden genießen sowohl zur Zeit von ,Leopoldstadt‘ als auch heute viele Privilegien. Das passt nicht ganz in das Narrativ von Intoleranz und Unterdrückung, das in den Vereinigten Staaten auf schwarze Amerikaner, Lateinamerikaner und andere Einwanderergruppen zutrifft. Juden haben ihre eigene Geschichte.“In einer pluralistischen Gesellschaft habe jede Minderheit eine andere Geschichte. „Es ist notwendig, diese unterschiedlichen Geschichten anzuerkennen und darüber zu sprechen, und ,Leopoldstadt‘ macht das für Juden.“
„Wenn ich im KZ gelandet wäre, hätte ich einen gelben Stern und darüber ein umgedrehtes rosa Dreieck tragen müssen.“
Von Stella Schuhmacher
Geboren 1972 in Salzburg, Studium der Romanistik, Ausbildung an der Diplomatischen Akademie. Arbeitete für UNO und Weltbank im Bereich Kinderschutz und Frauenrechte. Lebt seit über 20 Jahren in den USA. In regelmäßigen Abständen berichtet sie an dieser Stelle von österreichischen Holocaust-Überlebenden und dem jüdischen Leben in New York. (Pro Image Photo)